: Geduld und Leidenschaft
AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL
8:00 a.m. Der Astor Place, der die Grenze zwischen East und West Village im Süden Manhattans markiert, gehört nicht eben zu den prachtvollsten Plätzen New Yorks. Die Village-Bewohner, die hier am Morgen in die Bahn zu ihren Büros in Midtown oder im Wall-Street-Distrikt steigen, könnten bei dem Anblick der Automobilwüste am Zusammenfluss von Bowery und Lafayette Street zur Third Avenue bereits lange vor Dienstbeginn trübsinnig werden. Doch direkt neben dem U-Bahn-Eingang in der Mitte des Platzes verbreitet der „Mud-Truck“ schon morgens um acht gute Laune.
Aus dem grell orangefarbenen Kleinbus der Szenekneipe „Mud“ dröhnt Bob Dylan auf die Straße, eine junge Frau mit einem geringelten Trägerhemd und einer Blume hinterm Ohr schenkt den U-Bahn-Passagieren Kaffee und ein Lächeln aus. Kaum jemand muss eine Bestellung aufgeben. Die meisten kommen jeden Morgen, und die Frau weiß genau, was jeder braucht – ein bisschen Milch, ein bisschen Zucker, ein heißer Schluck und für ein paar Momente das Gefühl, nicht anonym zu sein.
New York ist arm an öffentlichem Raum, der nicht dem Kommerz gewidmet ist. Times Square, die Fifth Avenue, die Wall Street – alle berühmten Orte der Stadt organisieren sich um das Geldverdienen und das Geldausgeben. Der Central Park ist eine große Ausnahme, wo Verliebte spazieren gehen und Musiker unter freiem Himmel üben – und die U-Bahn, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird. Sie ist mehr als nur Verkehrsweg, sie ist endloser Flur, Warteraum: manche sind zehn Minuten unterwegs, manche anderthalb Stunden – und können in dieser Zeit nicht anders, als sich zu begegnen.
5:00 p.m. An der Ostseite Manhattans ist die U-Bahn notorisch überlastet. Seit 1906 fahren die Linien 4, 5 und 6 unter der Lexington Avenue entlang bis hinauf in die Bronx; und seit 1906 ist die Lexington Avenue Line die einzige Linie im Osten geblieben. Seit dem Zweiten Weltkrieg fordern die New Yorker, dass auf der Second Avenue eine zweite Ost-Route eröffnet wird, doch bis heute war dafür nie genug Geld da.
Die Menschen stehen dicht gedrängt, dass kaum Platz bleibt, eine Zeitschrift oder ein Buch als Schild zwischen sich und den Nachbarn zu halten – doch den meisten gelingt es trotzdem. Die Sitzbänke an den Flanken der Waggons sind nachmittags zwischen vier und sieben Uhr so etwas wie eine ethnologische Show: Da sitzen ein asiatisch-stämmiger Student, eine arabische Frau mit Kopftuch, ein junger Schwarzer mit Goldkette und weiten gürtellosen Hosen, ein Mexikaner und ein Pärchen mit einem Reiseführer auf Schwedisch. Daneben liest im Stehen ein Mann die Werbung, die über seinem Kopf für Geburtenkontrolle per „Pille danach“ wirbt. Als er aussteigt, trifft sich sein Blick mit dem einer jungen Frau, die wie er die Werbung studiert hat. Beide erröten und lachen sich an, bevor sie sich im Getümmel verlieren.
Jeder New Yorker hat eine Geschichte von einer Begegnung, von einem „Subway Moment“ zu erzählen. Gewöhnlich schottet sich der New Yorker in der U-Bahn ab, erklärt die Schriftstellerin Siri Hustvedt. Doch immer wieder kommt es vor, dass plötzlich der Panzer fällt. Siri Hustvedts Tochter erging es so, die einmal in der U-Bahn penetrant von einem Mann angestarrt wurde. Als er ausstieg und die Bahn weiterfuhr, rannte er neben dem Fenster des Mädchens her und rief: „Ich liebe dich! Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe!“ Und einer schaute von seiner Zeitung auf und bemerkte: „Scheint, als hätten Sie einen Verehrer.“ Ein „Subway Moment“. Die U-Bahn ist Bühne. Und das ist mit Sicherheit einer der Gründe dafür, dass New Yorker mit Bürgersinn von einer tiefen Leidenschaft für ihre Bahn beseelt sind.
„Die U-Bahn ist New York“, sagt Gene Russianoff, ein studierter Jurist, der seit 23 Jahren bei der „Straphangers Campaign“ beschäftigt ist, einer Bürgervereinigung, die sich für die Belange der New Yorker U-Bahn-Passagiere einsetzt. Der Konferenzsaal im Hauptquartier der „Straphangers“ besteht aus zwei Flohmarktsofas mit tellergroßen Flecken. „Es geht uns wie dem U-Bahn-Netz“, entschuldigt sich Russianoff, „es gibt noch viel zu tun.“ Mit seinem Abschluss könnte er auch ein paar Straßen weiter an der vornehmen Wall Street arbeiten. Doch Russianoff wollte etwas „Öffentliches“ tun. Dass sich die Gelegenheit ergab, sich für die U-Bahn einzusetzen, empfand er als besonderes Glück. Russianoff war in Brighton Beach aufgewachsen, einem russisch-jüdischen Ghetto an der Endstation der Linie W, 45 Kilometer von Manhattan entfernt. Für Russianoff war die U-Bahn das Tor zur Welt, schon mit zehn fuhr er allein nach Manhattan, um das Empire State Building zu sehen oder ins Kino zu gehen.
In den Siebzigerjahren musste Russianoff mit ansehen, wie seine geliebte Subway vor die Hunde ging. Die Waggons waren mit Graffiti übersät, die Kriminalität erreichte Rekordhöhen, die Züge brachen im Schnitt alle 7.000 Meilen zusammen: „Fast jeden Tag wurden wir irgendwo auf der Strecke ausgeladen und in den nächsten Zug gequetscht, der auch schon überfüllt war“, erinnert sich Russianoff. Als Russianoff 1981 bei den Straphangers anfing, benutzten so wenig Leute die U-Bahn wie seit 1917 nicht mehr.
Nicht zuletzt dank des Drucks, den seine Gruppe auf die Politik ausgeübt hat, wurde die U-Bahn saniert. Dem 100 Jahre alten Netz sieht man zwar sein Alter an; der Schimmel kriecht noch immer auch über die schönsten Art-Deco-Mosaike, die Waggons knarzen und kreischen mitunter Furcht erregend über die Schienen. Doch wenn Russianoff heute mit der U-Bahn von seinem Heim in Brooklyn in die Murray Street fährt, hat er zumindest gemischte Gefühle: Der Stolz auf das Erreichte und das Gefühl, dass diese Aufgabe wohl endlos ist. Immerhin, New York ist nicht eine Autostadt geworden, die U-Bahn hat sich behauptet.
John Kriskiewicz, Professor für Architekturgeschichte an der Parsons School of Design in Manhattan, ist wie Russianoff ein New Yorker Junge. Und wie für Russianoff hat sich für Kriskiewicz durch die U-Bahn die Welt erschlossen. „Meine wichtigste Schule war die Stadt.“ Und ganz besonders die U-Bahn. Die Ornamente der verschiedenen Stilepochen des 20. Jahrhunderts, die sich teilweise in einer einzigen Station überlagerten; die prächtigen Mosaike mit elaborierten Signets für die einzelne Station – wie der berühmte Biber am Astor Place, der auf das Fellhandelsvermögen des Namensgebers John Jacob Astor verweist; der minimalistische Streckenplan von Massimo Vignelli, der in den 70er-Jahren ein Kult-T-Shirt-Aufdruck war, die Plastikschalensitze von Charles Eames aus derselben Zeit – all das weckte die Begeisterung des jungen John für die schönen Formen.
Zum 100. Geburtstag der Bahn durfte Kriskiewicz im Foyer eines Wolkenkratzers an der Sixth Avenue alle diese Wunderdinge zusammentragen und ausstellen. Für Kriskiewicz ist die Ausstellung eine Bestätigung all dessen, was er sein ganzes Leben lang empfand und wusste: „Endlich sind wir an einem Punkt, an dem moderne Gestaltung von einer breiten Öffentlichkeit als erhaltenswert und schön angesehen wird, nicht nur als gebräuchlich.“ Außerdem ist er, wie Russianoff, froh, dass man nach den schweren Zeiten der vergangenen 20 Jahre überhaupt wieder über die Gestaltung der U-Bahn redet. „Vor 20 Jahren ging es doch nur darum, das System irgendwie am Leben zu erhalten.“
1:30 a.m. Das System lebt, und mit ihm die Stadt – rund um die Uhr. Am Astor Place spritzt eine Angestellte mit einem Schlauch den Bahnsteig ab, ein Obdachloser hat einen Stapel Magnetkarten aus dem Abfall gefischt und prüft an einem der neuen Automaten, ob er ein paar Freifahrten gefunden hat. In ein paar Stunden wird oben auf der Straße der Mud-Truck wieder vorfahren und die Blonde wird ihre Stammgäste mit einem Kaffee und einem Lächeln in den neuen Tag schicken.
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