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Zeichnungen an der Wand

Kein Tag ohne Linie: Die aktuelle Ausstellung der Kunsthalle Baden-Baden argumentiert „gegen den Strich“ und untersucht neue, erweiterte Formen der Zeichnung. In künstlerischer Hinsicht hat der Computer als Leitmedium ausgedient, Zeichnen erlebt einen Boom – nur ändern sich die Trägermaterialien

VON BRIGITTE WERNEBURG

Seit dem Dezember 1999 könnten sie eine ganze eigene Interpretation der bekannten Sentenz des antiken Malers Apelles liefern – wäre sie ihnen bekannt, was nicht zu vermuten steht. Sechs Personen, die sich für 30 Dollar bar auf die Hand einen waagerechten Strich auf den Rücken tätowieren ließen. Nulla dies sine linea: Kein Tag seither ohne diese Linie, die sie dem spanischen Künstler Santiago Sierra verdanken. Kein Tag seither ohne diese lebenslänglich sichtbare Erinnerung armer Leute an einen absurden Job, der freilich zeigt, was es heißt, die Haut zu Markte zu tragen.

Schlagend resümiert die in simplen Schwarzweißfotos dokumentierte Aktion das Thema der aktuellen Ausstellung der Kunsthalle Baden-Baden. „Gegen den Strich“ nennen die Kuratoren Fritz Emslander und Markus Heinzelmann ihr ehrgeiziges Unternehmen, das die gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der künstlerischen Zeichnung aufzeigen will. Gegen den Strich kann einem Sierras Kunstaktion nun wahrlich gehen, und gegen die gängigen Erwartungen an die Zeichnung geht sie sowieso. Aber geschieht nicht bei jeder Tätowierung genau das, was beim Zeichnen passiert: ein hartes Material (die Stahlnadel) hinterlässt auf einem weicheren Material (die Haut) eine Spur? Auch wenn es meist anders herum funktioniert und das weichere (zum Beispiel Grafit) auf dem härteren (etwa Papier) haften bleibt und so eine Spur hinterlässt. Ist deren Trägermaterial Papier, zweifelt niemand daran, eine Zeichnung zu sehen. Bei der menschlichen Haut beginnt man zu zögern. Und Zweifel gibt es auch, wenn es nicht die Hand der Künstlers ist, die den zeichnerischen Akt in Bewegung setzt. Doch Zeichnen heute geht in der Installation „360° Presence“ (2002) des dänischen Künstlers Jeppe Hein ganz anders vonstatten. Nicht nur der Künstler, auch der Ausstellungsbesucher ist daran beteiligt. Denn Hein hat eine Stahlkugel konstruiert, die durch den Raum rollt, sobald die Bewegungen des Betrachters ihren Sensor aktivieren. Wenn er nicht ausweicht, trifft sie ihn; vor allem aber stößt sie wie eine Billardkugel über Bande von Wand zu Wand und zieht auf immer gleicher Höhe allmählich eine schmutzige Linie entlang dem White Cube.

Sie macht das ziemlich akkurat, die Kugel. Ganz anders als Katharina Hinsberg, die auf einem Blatt Papier eine Linie zieht, die sie auf einem nächsten Blatt wiederholt, 954-mal, bis sich ein Würfel von der Kantenlänge 21 x 21 x 21 cm vor ihr auftürmt. Doch von Wiederholung zu Wiederholung wird die Linie zittriger, und am Ende könnte sie einen seismografischen Alarm auslösen. „Nulla dies sine linea“ (2001) heißt Hinsbergs minimalistischer Würfel, der auch als Verweis auf die 60er-Jahre, auf Concept, Minimal und Land Art gelesen werden kann, die die zeichnerische Linie in den Raum ausdehnten, isolierten und zum eigenständigen Zeichen machten; die Apelles’ Fleiß und stete Übung durch die Idee ersetzten.

Das war ein riskanter Schritt. Gehaltvolle Ideen sind kein Massenereignis. Doch ein Aspekt der Zeichnung macht sie gerade in ihrer veränderten, erweiterten Form für konzeptuelle Kunst attraktiv: ihre Möglichkeiten als Skizze. Unter dem Signum der Zeichnung muss eine Arbeit nicht als abgeschlossen betrachtet werden, die faderen Ergebnisse wie Jorge Pardos bunte Papierbetten erscheinen dann einfach wenig gewichtig.

Komplex und damit komplett sind dagegen die experimentellen Versuche. Etwa Claude Heath’ Blindzeichnungen, bei denen er sein Objekt mit einer Hand ertastet, während er es aufgrund der so gewonnenen Information mit der anderen zeichnet. Topfpflanzen treten dann mit dem Charme von Wolkenbildern auf, die auch mal in Atomexplosionen degenerieren können; anders ertastet stellen sie sich wie Kurven einer Wirtschaftsstatistik dar.

Rachel Lowe benutzt die Zeichnung als Netz, das sie blitzschnell über die filmisch bewegten Objekte ihrer Anschauung wirft; sie zeichnet mit Filzstift direkt auf die Mattscheibe, auf der zwei Rennwagen zu sehen sind. Im ständigen erneuten Versuch, die Beute zu fassen, steht die Zeichnung zwar de facto konträr zum Filmbild, deckt aber deren altes Wunschziel auf, Bewegung sichtbar zu machen.

Eine Mediengeschichte der Wahrnehmung im industriellen Zeitalter steckt in Michaela Meliáns „Panorama“ (2003). Melián bringt ihre Stadtansichten von Baden-Baden mit der Nähmaschine auf Papier und setzt diese Prospekte anschließend als Dias auf einer 360-Grad-Leinwand filmisch in Bewegung. Die mechanische Nähmaschinennaht, ein Strich, ein Loch, steht in dieser Skizze der Evolution der Kommunikationstechnik für das digitale Schema von Eins und Null. Doch in künstlerischer Hinsicht hat das zeitgenössische Leitmedium Computer an Attraktivität eingebüßt. Das Zeichnen boomt. Die Ausstellung in Baden-Baden hat noch nicht geschlossen, da geht es ab dem 11. September, gleich um die Ecke, in der Ursula Blickle Stiftung in Kraichtal bei Bruchsal, erneut um den Stellenwert der Zeichnung in der aktuellen jungen Kunst.

Bis 27. September, Katalog 22 €

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