IN RUSSLAND ERWARTET KAUM JEMAND AUFKLÄRUNG VOM STAAT: Lügen lohnt sich
Drei Tage nach dem schrecklichen und für viele tödlichen Ende der Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan gibt es nach wie vor wenig gesicherte Fakten, dafür aber umso mehr Unklarheiten. Weder ist bekannt, wie viele Opfer wirklich zu beklagen sind, noch wie es zu dieser Tragödie kam. Leider stehen die Chancen gut, dass auch im Fall Beslan die ganze Wahrheit nie ans Licht kommen wird – genauso wie nach der Erstürmung des Moskauer Musical-Theaters durch Sicherheitskräfte im Oktober 2002.
Damals weigerten sich die verantwortlichen Behörden auch dann noch, über die Zusammensetzung des eingesetzten Giftgases Auskunft zu geben, als bereits dutzende der „befreiten“ Geiseln in Krankenhäusern mit dem Tode rangen. Jetzt mutet die russische Regierung ihrem Volk nicht nur dreiste Lügen, Tatsachenverdrehungen und Verschleierungen von Fakten zu, sondern entblödet sich nicht einmal, an ebendieses Volk zu appellieren und um Unterstützung und Rückhalt zu bitten. Sicher, mittlerweile dürfte hinlänglich bekannt sein, dass da, wo es um die Interessen des Staates geht, ein Menschenleben absolut gar nichts zählt. Trotzdem bleibt die Frage, warum sich nicht endlich einmal hörbarer Widerstand in der russischen Gesellschaft gegen die menschenverachtende Informationspolitik der Moskauer Regierung regt.
Tatsächlich konnte sich eine kritische Öffentlichkeit in Russland trotz Glasnost und aller entscheidenden politischen Veränderungen seit 1991 nicht einmal in Ansätzen entwickeln. Die wenigen aufrechten Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht für dumm verkaufen lassen wollen und für ihre Rechte eintreten, scheitern regelmäßig in den Mühlen der Bürokratie oder werden mundtot gemacht. Das Gros der Menschen in Russland erwartet nicht einmal mehr, von der Regierung aufgeklärt zu werden. Wer etwas erfahren will, ist heute wie zu Sowjetzeiten auf die Fähigkeit angewiesen, zwischen den Zeilen zu lesen.
Gleichzeitig ist der Glaube an „Väterchen Zar“, an jemanden, der es schon richten wird, bei vielen weiter ungebrochen. Unter diesen Bedingungen kann Russlands Regierung in nächster Zeit vor allem eins tun: weiterlügen. BARBARA OERTEL
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