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Keine Klagemauer in Diyarbakir

Kurden im Südosten der Türkei loben Reformanstrengungen Ankaras und hoffen auf einen schnellen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Zu Fuß bewegt sich der Tross in einer langen Schlange zum Dorf. Es ist heiß hier im Südosten der Türkei. Günter Verheugen, EU-Erweiterungskommissar, hat sein Jackett ausgezogen und seine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt. Am Ortseingang wird er von den Bewohnern empfangen.

Im Schatten einiger Bäume sind auf dem Dorfplatz Plastikstühle aufgestellt, wo der hohe Besuch sich gemeinsam mit den Honoratioren zu einem Plausch niederlässt. Aufmerksam hört Verheugen zu, was der Muhtar, der Dorfvorsteher, zu erzählen hat. Vor neun Jahren, 1995, mussten die Bewohner ihr Dorf Tuzla auf Anweisung des Militärs verlassen. Tuzla, etwas nördlich der regionalen Metropole Diyarbakir, lag damals mitten in der Hauptkampfzone zwischen der türkischen Armee und Guerillakämpfern der PKK. Um der PKK die Basis zu entziehen, wurden rund 3.000 Dörfer geräumt. Seit dem Ende des Bürgerkrieges kehren nun einige Familien zurück.

In Tuzla sind es bislang 30 von ursprünglich 100 Familien, die ihre Felder wieder bearbeiten. Ob sie denn für ihre Verluste entschädigt worden sind, will Verheugen vom Muhtar wissen. Der schüttelt den Kopf und erzählt, dass von der versprochenen Hilfe noch nichts angekommen sei. Es fehle an Häusern, Schulen, und selbst ein Imam sei noch nicht da. Dann hat der Muhtar noch eine Frage. Ob die Türkei denn nun endlich Mitglied der EU werden könne, will er wissen. Verheugen lacht, sagt weder Ja noch Nein, sondern das, was er nun schon seit seiner Ankunft in der Türkei am Sonntagabend immer wieder sagt: Das werden die Chefs der EU-Staaten im Dezember entscheiden.

Günter Verheugens erster Besuch im kurdischen Südosten der Türkei glich einem Triumphzug. Zu seinem Empfang war die gesamte Stadt Diyarbakir mit Plakaten geschmückt, auf denen in englischer, türkischer und kurdischer Sprache stand: „Lieber Herr Verheugen, willkommen im größeren Europa“. Die Einwohner wollten einen Blick auf den Mann erhaschen, der sich vor der Präsentation seines entscheidenden Fortschrittsberichtes über die Türkei am 6. Oktober einen Eindruck darüber verschaffen wollte, ob die Reformen, die man in Ankara zur Anpassung an die EU-Gesetzgebung beschlossen hat, auch in die Praxis umgesetzt wurden.

Nachdem er am Montag in Ankara zunächst mit Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Außenminister Abdullah Gül zusammengetroffen war, besuchte Verheugen am Abend im Rathaus von Diyarbakir dann einen Vertreter der prokurdischen Partei Dehap. Bürgermeister Osman Baydemir war vor wenigen Wochen in die Kritik geraten, weil er bei einer Familie eines PKK-Mannes, der einen Parkwächter erschossen hatte und in einem anschließenden Feuergefecht mit der Polizei selbst getötet worden war, einen Kondolenzbesuch abgestattet hatte. Der Bürgermeister war vor seiner Wahl Vorsitzender des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir und wurde immer wieder als PKK-Sympathisant verdächtigt.

Baydemir nutzte seinen Auftritt mit Verheugen nicht zu Agitprop-Zwecken, sondern beschwor die Hoffnung auf schnelle EU-Mitgliedschaft: „Eine bessere Zukunft ist nahe“, rief er ziemlich aufgeregt ins Mikrofon. Und Verheugen, der sich seit Monaten um eine klare Aussage über die Tendenz seines Berichts herumdrückt, wollte Baydemir nicht wieder mit seiner üblichen Floskel abspeisen: „Ich sehe für Ihre Stadt bereits klar eine viel bessere Zukunft innerhalb der europäischen Familie vor mir.“

Danach waren Vertreter ziviler Organisationen zum Abendessen geladen. „Das Gespräch war keine Klagemauer“, sagte ein Teilnehmer, „alle haben Fortschritte bestätigt und alle haben darauf hingewiesen, wie wichtig für ihre Arbeit der Beginn von Beitrittsgesprächen ist.“

Die Überraschung des Tages kam aber erst nach dem offiziellen Programm. Zurück im Hotel empfing Verheugen Leyla Zana, Symbolfigur des kurdischen Widerstandes, die erst im Frühjahr nach einer langen Haftstrafe freigelassen worden war. Das Treffen dauerte eine gute Stunde, anschließend sagte Leyla Zana, man habe darüber gesprochen, welche Verantwortung jetzt auf Brüssel zukomme und „was wir hier machen müssen“. Was sie damit gemeint hat, machte Verheugen zum Abschluss seines Besuches in Diyarbakir klar: Angesichts der Hoffnungen der Menschen habe er eine große Last aufgebürdet bekommen. Die Türkei müsse den eingeschlagenen Weg fortsetzen, die kulturellen Rechte der Kurden ausbauen und die Region stärker wirtschaftlich unterstützen. „Ohne eine bessere Perspektive für die Menschen kann man hier keine politische Stabilität erreichen.“

Wie sehr diese noch gefährdet ist, erlebte Verheugen hautnah. Wenige Stunden nach seinem Gespräch mit Zana überfiel ein PKK-Kommando einen kleinen Polizeiposten und tötete zwei Polizisten.

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