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Glücklich bestandene Prüfung

Hin zur reinen Degustation: Die neunte Auflage der Lit.Cologne beschränkt sich auf ein einfaches Rezept und macht mit großen Namen auf sich aufmerksam. Entsprechend geraten die Lesungen zu einem 15-minütigen Appetithäppchen. Der Lohn sind neue Zuschauer- und Lesungsrekorde

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Mit wehenden Fahnen kündigt sich die neunte Auflage der Lit.Cologne an. Zumindest wenn man über den Rhein mit dem Zug in die Domstadt einfährt und in Richtung des zerstörten Kölner Stadtarchivs blickt. Das Literaturfestival ist dieses Jahr nur Nebenschauplatz in einer Stadt, die einen Teil ihres literarischen Gedächtnisses verloren hat. Darüber kann auch das pflichtschuldige Vermelden neuer Rekorde nicht hinwegtäuschen: 158 Lesungen, eine erwartete Zuschauerzahl von 65.000. Und mit Elke Heidenreichs „Lesen!“ haben sich die Veranstalter auch für den Rest des Jahres erhöhte Aufmerksamkeit gesichert.

Und auch die kleine Gegenveranstaltung „Little Cologne“ scheint sich im dritten Jahr als Alternative etabliert zu haben und ließ Schriftsteller und Journalisten zum Thema „Flucht“ zu Wort kommen. Trotz erhöhtem Wegzug besitzt Köln immer noch eine aktive Literaturszene aus kleinen Verlagen und talentierten Schriftstellern, die mittlerweile auch teilweise ihren Weg auf die Bühnen der großen Lit.Cologne gefunden haben.

Der erste Star des zehntägigen Lesemarathon ist trotzdem ein Auswärtiger. Daniel Kehlmann steht im braun wirkenden Anzug vor ausverkauftem Haus und liest aus „Ruhm“. Das Publikum ist schnell im Gleichklang mit dem Vorleser: Die Lacher kommen passend und Kehlmanns Stimme verleiht seinen offensichtlich konstruiert wirkenden Charakteren die dafür nötige Glaubwürdigkeit.

Ein Detail, das auch dem Germanisten Jochen Hörisch nicht entgeht, der sich das Podium mit dem Jungstar teilen darf. Das Gespräch der beiden beginnt mit akademischen Fingerübungen über die Position des Autors beim Schreiben, entwickelt sich in seinem Verlauf aber zum Eignungstest für den Literatenkanon. Kaum dass Hörisch erwähnt, wie der tugendhafte Bildungsbürger im Fall eines Konflikts vermittelnd zu wirken hat, stellt er Kehlmann auch schon die kulturwissenschaftliche Gretchenfrage: Wie genau verhält es sich denn nun mit der Simulation und der Wirklichkeit? Kehlmann sinkt tiefer in seine Schultern, zögert ein wenig und holt dann aus. Er sei gespalten, die Naturwissenschaft und ihr Streben nach der Erforschung einer begreifbaren Wirklichkeit wolle er nicht aufgeben. Aber: Der Konstruktivismus, der Verlust der wirklichen Welt zugunsten der Wahrnehmung, habe der Literatur ungemein genutzt.

Und so versöhnlich geht es weiter: Selbstverständlich sei E-Mail ein in Erfüllung gegangener Menschheitstraum, aber man werde von ihrer Masse erdrückt. Und der Schriftsteller dürfe von der historischen Realität abweichen, keine Frage. Aber die Abweichung müsse neuen Sinn ergeben. Hörisch hört aufmerksam zu, nickt wohlwollend und lobt Kehlmanns Werk zum Abschluss als „Perfektion von Gegenwartsliteratur, die so lange nicht erreicht wurde.“ Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung.

Dabei steht Kehlmann im Staraufgebot der Lit.Cologne nicht alleine dar. Egal ob T. C. Boyle, Pulitzerpreisträger Junot Díaz oder Richard David Precht – es sind die großen Namen, mit denen das Festival auf sich aufmerksam macht. Und die vermutlich auch notwendig sind, um die kleineren Veranstaltungen in ihrem Schatten überhaupt möglich zu machen. Dabei ist den Veranstaltern ein gewisser Hang zur allzu vorhersehbaren Geschmackssicherheit nicht abzusprechen. Die große Gala am Samstagabend steht unter dem Motto „SATT!“ und Dennis Scheck lässt als Gastgeber nichts anbrennen. „Sind eigentlich die Gastrokritiker oder die Literaturkritiker die Schlimmeren?“, fragt er Vincent Klink, den Koch mit einer eigenen Kochzeitschrift. Dieser antwortet wohlwollend: „Von Kritik lernt man immer.“ Um dem Publikum in der ausverkauften Philharmonie das Programm schmackhaft zu machen, gibt es ein einfaches Rezept. Die aufgrund ihrer Bekanntheit aus Print, Fernsehen oder als Kölner ausgewählten Vorleser beschränken sich auf mundgerechte Häppchen von 15 Minuten Länge. Bestsellerautor Frank Schätzing darf unter Applaus seinen nächsten Roman ankündigen. Jürgen Dollase stellt sein Programm für den „gastronomischen Umbau der Gesellschaft“ hin zum Zustand der „reinen Degustation“ vor. Und zum Abschluss gibt Harry Rowohlt den Bildungsbürger in abgewetzter Jeans, der dem anwesenden Kölner Kulturbürgertum Nachhilfe über den Wortstamm „Neuro“ und den wohlgeformten Oktameter gibt, was dieses unter Gelächter gerne annimmt. Was dann schlussendlich doch Appetit auf weitere Vorlesestunden macht.

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