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Volksbewegung gibt Carlos Mesa eine Chance

90 Tage Schonfrist räumt Boliviens Opposition dem neuen Präsidenten ein. Der will zunächst gut Wetter machen

PORTO ALEGRE taz ■ Nach links zwinkern, nach rechts marschieren – so fasst die gewerkschaftsnahe bolivianische Nachrichtenagentur Econoticias die ersten Tage des neuen Staatschefs Carlos Mesa zusammen: Einerseits appelliere Mesa an die Geduld der Volksbewegung, die seinen Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada aus dem Amt gejagt hatte, andererseits setze er dessen neoliberale Politik fort. Noch in diesem Jahr, so Außenminister Juan Ignacio Siles, soll das geplante Freihandelsabkommen mit Chile unterzeichnet werden. Profitieren davon wird vor allem die ostbolivianische Agroindustrie. Die Märkte von hunderttausenden Kleinbauern hingegen werden durch Billigimporte von chilenischem Obst und Gemüse weiter ausgehöhlt.

Durch geschickte Auftritte in El Alto, dem Zentrum der Rebellion, und vor Kleinbauern der Andenhochlandes hat sich Mesa zunächst einmal Luft verschafft. Am Montag tauchte er im Zentrum von La Paz ausgerechnet auf der Großkundgebung von Indígena- und Bauernsprecher Felipe Quispe auf, der ihn am Wochenende noch als Laikaien Washingtons beschimpft hatte. „In aller Bescheidenheit“ bat Carlos Mesa die Versammelten um „Zeit und Raum zum Arbeiten“: „Das Land muss sehen, dass die Aymaras heldenhaft im Kampf sind, aber auch großzügig, wenn sich ein echter Freiraum für die Demokratie auftut.“ Mit Erfolg: Per Akklamation beschlossen die Bauern einen „Waffenstillstand“ von 90 Tagen.

Durch die Bildung eines Kabinetts mit parteilosen Technokraten und zwei Indígenas hat der Staatschef Distanz zu den diskreditierten Rechtsparteien signalisiert, die 14 Monate lang mit Sánchez de Lozada regiert hatten. Die jedoch drängen mittlerweile darauf, dass sich Mesa entgegen seiner Eigendefinition nicht als Übergangspräsident versteht, sondern bis 2007 im Amt bleibt. Die angekündigten Neuwahlen seien angesichts der jetzigen Krise unangebracht, meinte Senatspräsident Hormando Vaca Díez.

Die sozialen Bewegungen versuchen derweil, ihren Druck aufs Establishment aufrechtzuerhalten – die Kokabauern aus dem subtropischen Tiefland, die Bergarbeiter von Huanuni, die Stadtteilbewegung von El Alto, der Gewerkschaftsdachverband COB, Landlose und Lehrer. In Anwesenheit des Präsidenten zählte Felipe Quispe das 72-Punkte-Programm auf, zu dem er Anfang 2002 Mesas Vorvorgänger Jorge Quiroga verpflichtet hatte, darunter die Ablehnung der gesamtamerikanischen Freihandelszone FTAA und die Neuordnung der Erdgasförderung.

Allerdings sind sich „Kondor“ Quispe und der Sozialist Evo Morales, der im letzten Jahr fast die Präsidentenwahlen gewonnen hatte, spinnefeind. Morales glaube schon, er sei bereits an der Regierung, spottet Quispe und geißelt die nationalistische Rhetorik seines Rivalen: „Die Aymaras haben keine Grenzen. Die koloniale Elite hat uns gelehrt, in den Kasernen ‚Es lebe Bolivien‘ und ‚Tod den Chilenen‘ zu schreien, und das hat viele Leute geprägt.“

Morales hingegen, dessen wichtigste Basis die gut 30.000 Kokabauern aus der Chapare-Region sind, gibt sich ganz als Staatsmann. Die 90-Tage-Schonfrist für Mesa unterstützt er. Bereits vor Sánchez de Lozadas Sturz hatte er sich für Mesa ausgesprochen. Nun setzt er auf eine verfassunggebende Versammlung, die ihm zusammen mit anschließenden Neuwahlen den Weg an die Regierung ebnen soll. Während der Exguerillero Quispe an der „Revolution“ festhält, betont Evo Morales immer wieder, er wolle „auf demokratischem Weg“ an die Macht.

Den wiederum möchten ihm die USA verwehren. Die Regierung Bush hatte bis zuletzt auf Sánchez de Lozada gesetzt. In La Paz warnte US-Botschafter David Greenlee derweil den neuen Präsidenten davor, die „Spielregeln“ für ausländische Investoren und für die Zerstörung der Kokapflanzungen nicht beizubehalten. GERHARD DILGER

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