DIE REAKTIONEN AUF DEN TÜRKEI-ENTSCHLUSS DER EU ZEIGEN DEUTLICH:: Europa braucht mehr Debatte
Die EU-Kommission schlägt vor, Verhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, und es erhebt sich ein Chor warnender Stimmen. Zwar ist der Beitritt neuer Länder zur EU noch nie mit Beifallsstürmen begrüßt worden, aber so viel Skepsis war nie.
Nun ist unleugbar, dass die Türkei einen Sonderfall unter den Beitrittskandidaten darstellt: wegen ihrer geografischen Lage, ihrer Größe, ihrer Armut und wegen der Religion ihrer Einwohner. Es gibt Grund zur Debatte. Aber hätte es den nicht auch schon gegeben vor der Aufnahme der mitteleuropäischen Staaten? Müsste nicht schon längst darüber debattiert werden, was die EU-Aufnahme von Ländern mit einer so gering ausgeprägten demokratischen Struktur wie Bulgarien oder Rumänien bedeutet? Warum bleiben diese Debatten aus?
Euro-Einführung, Osterweiterung, EU-Verfassung – alle diese Faktoren verändern das Leben in der EU. Sie verringern die Handlungsspielräume nationaler Parlamente zugunsten der Union, und sie wirken sich gelegentlich außenpolitisch aus, wie am Beispiel des Irak zu sehen war. Aber eine tief greifende und nuancierte Debatte bleibt weitgehend aus. Anlässlich der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist die Grundfrage der EU – Erweiterung oder Vertiefung? – wieder aufgetaucht.
Nachdem diese Frage in den letzten Jahren der Politik nicht entschieden werden konnte, hatte man versucht, ein bisschen beides zu tun: die EU jetzt schon mal zu erweitern, aber gleichzeitig eine europäische Verfassung auszuarbeiten. Beides, so zeigt sich, ist an der EU-Bevölkerung weitgehend vorbeigerauscht. Die Europäische Union ist weiterhin vor allem Angelegenheit der Brüsseler Bürokraten und der Politiker. Doch zeigt sich, dass sich dieser Mangel an Debatte über das Selbstverständnis der EU rächt: dass die europäische Verfassung bei einer Volksbefragung in allen EU-Ländern ratifiziert würde, darf bezweifelt werden. Bei den Wahlen bleiben immer mehr EU-Bürger zu Hause. Sie interessieren sich für das politische Gebilde, in dem sie leben, erst dann, wenn ihre Emotionen geschürt werden. Nicht weniger Debatte ist notwendig, sondern mehr. Und vor allem eine breiter angelegte Debatte. Sonst bricht die EU irgendwann auseinander, mit oder ohne Muslime. ANTJE BAUER
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