: „Wir wissen viel über die Zukunft“
Rolf Kreibich
Er ist ein Hansdampf in allen Gassen – solange man darin nur Daten sammeln und nach vorne schauen kann. Rolf Kreibich, Jahrgang 1938, ist Zukunftsforscher. Kein futurologischer Glaskugelanalytiker, sondern ein beinharter Wissenschaftler. In den 50er-Jahren studierte er in Dresden und Berlin Physik und Mathematik, dann Festkörper- und Hochpolymerphysik. Offenbar reichte dies Kreibich nicht, denn er machte weiter mit Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Ende der 60er-Jahre leitete er erst das Institut für Soziologie und wurde dann Präsident der FU Berlin. Seit 1981 ist der Vater zweier Kinder Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT). Kreibich, Autor von rund 400 Publikationen, lebt in Zehlendorf und würde Berlin gerne mal auf den Zug in die Zukunft setzen.
INTERVIEW ADRIENNE WOLTERSDORF
taz: Herr Kreibich, dass Sie als Zukunftsforscher noch in Berlin sind, ist das ein gutes Zeichen für die Stadt?
Rolf Kreibich: Ich lebe gerne hier und finde, dass es in Berlin eine Fülle interessanter Beziehungen im Wissenschaftsbereich und in der Politik gibt. Ohne Zweifel aber hätte mein Institut, hätten wir uns in einer anderen Stadt niedergelassen, erheblich mehr Unterstützung erhalten als hier.
Zukunftsforschung ist ja nichts Neues. Wie glaubwürdig ist denn Ihr Blick in die Zukunft?
Ich verpflichte mich strikt der Wissenschaftlichkeit und grenze mich ab von jeder Form von Scharlatanerie wie zum Beispiel der Trend- und Perspektivforschung. Bei uns geht es um Vernetzung von Einzelwissenschaften und die ganzheitliche Betrachtung von Systemen. Und ich will mit diesem Wissen Einfluss nehmen auf politische und kulturelle Entscheidungen, das ist neu.
Zukunftsforscher können nur sagen, was kommen könnte – und täuschen sich oft. Was ist überhaupt spannend am Thema Zukunft?
Mich interessieren nicht irgendwelche Utopien, sondern die Frage, wie man Zukunft gestaltet. Ich bin überzeugt, dass moderne Gesellschaften nur zukunftsfähig bleiben, wenn sie sich mit langfristigen Perspektiven beschäftigen. Leider leben wir heute mit der dramatischen Situation, dass sich Politik im Vierjahresrhythmus abspielt, wobei nur zwei Jahre davon aktiv gestaltet werden.
Stanislaw Lem, der weltbekannte Science-Fiction-Autor, attestiert der Politik einen Verblödungsgradienten. Er rechnet sich wenig Chancen aus, der menschlichen Dummheit vorausschauend Herr zu werden.
Wir haben deshalb mal untersucht, wie weit wenigstens die Wirtschaft vorausdenkt. Bestenfalls, und ich meine damit nur die innovativsten Unternehmen, drei bis vier Jahre. Kluge Manager wissen, dass dies zu kurz gegriffen ist. Sie wissen, dass es gefährlich ist, nur in kurzen Konjunkturzyklen zu denken. Wir erleben das gerade mit den sozialen Verwerfungen – die dahin führenden und lange bekannten demografischen Entwicklungen sind in der Vergangenheit schlicht verschlafen worden.
Aber die Chaosforschung und die berühmte Fliege im Raumschiff, die alles vermasselt, lehrt, dass man die Zukunft nicht wirklich denken kann.
Ich glaube – anders als die meisten Menschen –, dass wir eine Menge über die Zukunft wissen. Natürlich gibt es Störereignisse, die Situationen verändern. Aber viele der normalen Entwicklungslinien sind durchaus plan- und vorhersehbar. Demografische oder urbane Entwicklungen zum Beispiel.
Haben sie den heutigen Reformstau schon damals erahnt?
Zum Teil. Seit 25 Jahren zum Beispiel können wir klipp und klar sagen, es gibt eine gute Alternative in der Energieversorgung. Wir brauchen keine Kernenergie und können allmählich auf fossile Energie verzichten, wenn wir konsequent Energieeffizienz betreiben und alle regenerativen Energien mobilisieren. Vor 20 Jahren wurden wir dafür ausgelacht und geprügelt. Jetzt setzt sich diese Erkenntnis langsam durch.
Braucht die Gesellschaft, um Fehlentscheidungen zu vermeiden, schlicht mehr Zukunftsberater?
Deutschland ist in dieser Hinsicht schlecht dran. Es ist grotesk, dass wir in der Bundesrepublik rund 3.000 Institutionen haben, die sich wissenschaftlich mit der Vergangenheit beschäftigen. Dagegen gibt es nur ein Institut, nämlich unseres, dass das Wort Zukunft auch im Namen trägt. Daneben gibt es eine Reihe Institutionen, die sich mit partiellen Zukünften beschäftigen. Das reicht aber nicht. In den USA und in Skandinavien wird Futures Studies an Universitäten bereits seit Jahrzehnten sehr intensiv betrieben.
Das Deutsche Wörterbuch von Wahrig definiert den Begriff „utopisch“ als „nur in der Vorstellung befindlich“ und „nach Unmöglichem strebend“. Der amerikanische Thesaurus bietet für das Adjektiv „utopian“ gleich 13 Deutungsmöglichkeiten, darunter: hoffnungsvoll und visionär. Blicken wir deshalb so finster nach vorne?
Ich sehe das nicht so. Bei unseren Bürgerbefragungen zur Zukunft, stellen wir jedes Mal fest, dass die Menschen alle sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben. Positive wie negative halten sich dabei ziemlich genau die Waage. Die Menschen sind jedenfalls durchaus realistisch. Schon 1998 ergab eine Allensbacher Umfrage zur Situation Deutschlands im Jahre 2008, dass knapp 80 Prozent dem Satz „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer“ zustimmten. Auch befürchteten sie sozialen Abstieg und dass es immer weniger demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten gibt.
Das ist ja leider auch alles eingetreten. Obwohl Sie in Berlin arbeiten und schon anderswo Krisenregionen erfolgreich beraten haben, hat das Land Berlin nie bei ihnen angeklopft?
Unser Wissen wird tatsächlich nur von außen abgefragt. Außer der Agentur Zukunftsfähiges Berlin, für die wir von der Lottostiftung Geld bekommen, können wir hier bislang nichts tun. Dass ich lange Zeit in der Enquetekommission Zukunftsfähiges Berlin mitgearbeitet habe, war rein ehrenamtlich.
Wo würden Sie Berlin denn gern mal auf die Sprünge helfen?
Reizen würde mich eine Beratung zu den Chancen Berlins für eine zukunftsfähige Entwicklung.
Das fragen wir uns doch alle, was meinen sie denn damit genau?
Man müsste herausarbeiten, welche Entwicklungsbereiche für Berlin besonders relevant sind. Einerseits bin ich da ganz optimistisch, weil wir eine interessante Basis haben, also Wissenschaft, Kultur und Medien. Das zieht viele junge Leute und Familien an. Auf der anderen Seite ist die wirtschaftliche Situation Berlins so dramatisch schlecht, dass jeder, der die Wahl hat, sich fragen muss, ob er sich freiwillig in einen so schlechten Wirtschaftsraum hineinbegibt. Wir haben seit einem Jahrzehnt, bis auf ein einziges Jahr, wirtschaftliche Schrumpfung erlebt – mit zum Teil dramatischen Einbrüchen. Selbst wenn in Deutschland in den nächsten Jahren ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent erreichbar wäre, hätten wir in Berlin bestenfalls Stagnation. Im Wettbewerb mit den innovativsten Regionen Europas wie München, Mailand oder London, spielt Berlin nur noch in der dritten, vierten Liga. Wenn ich mir zudem noch die gesamten relevanten Daten zu Korruption, Verfilzung und Vernebelung anschaue, dann muss ich sagen, sieht es finster aus. Man müsste eigentlich zunächst den alten politisch-wirtschaftlichen Sumpf trockenlegen.
Sie selbst haben an fünf umfangreichen Zukunftsstudien und zahlreichen Strategiepapieren für Berlin mitgearbeitet. War das am Ende etwa nur zum Zeitvertreib?
Papier allein bringt’s ja nicht. Ich erwarte aber, wenn das Abgeordnetenhaus Enquetekommissionen einsetzt, dass sich die Politik aus diesen ganzen Berichten dann die Zukunftsstrategie herausarbeitet, die machbar ist. Und dann natürlich Entscheidungen trifft. Zum Beispiel die Berlin-Studie, bezahlt von der EU, an der zwei Jahre lang viele Leute arbeiteten und die viele hochinteressante Perspektiven aufzeigt – nichts wird davon umgesetzt, das frustriert mich.
Warum passiert da nichts?
Offensichtlich sind in den entscheidenden Zirkeln immer die gleichen Berater zu finden, die weiterhin nur den traditionellen Kram statt innovativer Konzepte versuchen wollen. Das liegt an den Strukturen Berlins und der ganzen Vernebelung wie etwa im Bankenskandal. Das politische Klima in der Stadt ist ja völlig versaut, und niemand will es wirklich reinigen, weil alle irgendwie mit drinhängen. Sehen sie, ich habe im nördlichen Ruhrgebiet ein Jahrzehnt lang gearbeitet, eine Region die viel, viel schlechtere Ausgangs- und Rahmenbedingungen als Berlin hatte. Dort ist es aber in dieser Zeit gelungen, die Menschen zu motivieren und vieles erfolgreich umzustrukturieren.
Die Berlinerinnen und Berliner selbst sind aber doch sehr motiviert.
Das ist ja die furchtbare Diskrepanz. Tausende Bürger engagieren sich beispielsweise in der lokalen Agenda 21. Wir am IZT fördern mit unserer Zukunftsagentur 66 Projekte, aber die werden offiziell gar nicht aufgegriffen. Wenn es den großen Wurf dazu nicht gibt, tötet das bald die Motivation.
Nun mal Hand aufs Herz. Sie haben doch hoffentlich noch einen Joker für Berlin in der Tasche, oder?
Die zukunftsfähigste Eigenschaft Berlins ist das Wissenschaftspotenzial, das bietet enorme Chancen. Die wirklichen Innovationen in Wirtschaft, Gesundheit, Kultur, Ökologie, im sozialen Bereich, das kann man nachweisen, kommen aus Wissenschaft und Forschung. Wenn die nicht angegangen werden, dann ist die Stadt einfach nicht in der Lage, wettbewerbsfähig zu bleiben. Berlin könnte gerade im Bereich Medizin, Präventionsleistungen und Medizintechnik exportfähig werden. Dann gibt es noch den Bereich Aus- und Fortbildung und Qualifizierung, die Logistik, ein hochkomplexes Gebiet. Wir müssen lernen, Produkte, die ruhig anderswo produziert werden können, viel stärker in Dienstleistungspakete einzukleiden. Berlin könnte ohne weiteres solche Dienstleistungspakete mit Software, Kundenbetreuung, Management etc. schnüren und damit international wettbewerbsfähig werden. Da haben wir Potenziale, das könnten wir.
Nun hat Berlin ja in puncto Dienstleistungen eher einen etwas zweifelhaften Ruf.
Ja, da ist Berlin unmöglich. Ich sage den Verkäufern manchmal im Geschäft, wenn ihr freundlicher zu den Leuten seid, dann sind die auch freundlicher zu euch. Das ist doch ein rückgekoppeltes System welches man einfach begreifen muss. Seltsamerweise gibt es im Kleinen wie im Großen kaum Unterschiede.
Ein Beispiel?
Berliner Abgeordnete empfinden es offenbar als Zumutung, wenn man ihnen einen Brief schreibt mit der Aufforderung, sich mal mit der Bankgesellschaft zu beschäftigen. Bis hin zu den Grünen. Man findet hier nicht mal offene Ohren, selbst wenn man mit einer Idee kommt. Oder die Berliner Unternehmen. Ich beobachte immer wieder, dass sie sich an anderen Orten weniger gut präsentieren können als andere.
Haben Sie sich schon mal von Science Fiction inspirieren lassen?
Leider ist das meiste, was in diese Sparte fällt, Schrott, Technikverlängerung ins Gigantische. Unsere Untersuchung hat ergeben, dass nur 0,1 Prozent der Science-Fiction-Literatur überhaupt relevant Neues bringt. Ich denke da an H. G. Wells, Aldous Huxley oder eben Lem. also die, die mal andere Lebensformen erdacht haben. Deren fantasievolle Überlegungen im Hinterkopf behaltend, denke ich schon darüber nach, was denn wünschenswerte Entwicklungen wären. Wir gehen in der Zukunftsforschung heute viel mehr davon aus, was wünschenswert ist.
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