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Einmal, aber dann richtig

Das ist Arno Luiks Prinzip beim Interview. Eine zweite Chance bekommt der Interviewte nicht. Trotzdem wird man nirgendwo mehr über Angela Merkel, Joschka Fischer oder Boris Becker erfahren als in Luiks Gesprächen. Wie macht er das?

Sexuelle Treue erfahre „ich ganz anders als die meisten Männer“ (Boris Becker) Das „linksradikale Gequatsche“ geht mir „auf den Senkel“ (Joschka Fischer) Der Mauerfall? „Wunderbar. Ich war in der Sauna“ (Angela Merkel)

VON PETER UNFRIED

Deutschlands führender Interviewer nimmt 25 Zeitungs- und Zeitschrifteninterviews aus 20 Jahren und macht ein Buch draus. Und weil grade 60 Jahre Bundesrepublik zusammenkommen und der Buchbetrieb in solchen Jubiläen tickt, sagt er, die Gespräche erzählten „deutsche Geschichte“.

Lieber Arno Luik, ist das nicht ein bisschen übertrieben? Selbstverständlich nicht, antwortet Luik. Erst sei es die Idee seiner Verlegerin Antje Kunstmann gewesen, inzwischen müsse er sagen: „Sie erzählen tatsächlich kaleidoskopartig deutsche Geschichte.“ Ich solle lesen und dann wiederkommen.

Arno Luik, Jahrgang 1955, ist Stern-Autor und amtierender „Kulturjournalist des Jahres“, zumindest für das „medium“-Magazin. Ein außergewöhnlich lebhaftes Jahr war er auch mein Chef bei der taz. „Wer zum Teufel sind Sie nun?“ (Kunstmann) beginnt mit einem taz-Gespräch. Es ist 1994. Der ehemalige militante Straßenkämpfer und spätere ehemalige Außenminister Joschka Fischer sitzt im Niemandsland und fantasiert über Rot-Grün mit einem SPD-Kanzler Scharping. Völlig unklar, ob noch jemals was aus Fischer wird. Völlig klar, was aus ihm werden wird, falls was aus ihm wird. Luik sagt, in Hessen brummten trotz Umweltminister Fischer immer noch die Atomreaktoren. Fischer antwortet: „Ich glaube, bei Ihnen brummt etwas ganz anderes.“ So geht es hin und her: Luik prescht aggressiv besserwisserisch vor, Fischer pariert hinreißend schlechtgelaunt. Luik reizt ihn, immer mit dem Ziel, ihn von seinen früheren „Idealen“ zu entfernen, bis Fischer irgendwann sagt: „Gut, dann bin ich halt auf der anderen Seite. Abgehakt.“ Und wie sehr ihm das „linksradikale Gequatsche“ der Linken „auf den Senkel“ gehe.

Fischer in seiner ganzen Fischerhaftigkeit: Das Gespräch steht auch heute wie eine Eins. Wenn der zeitweilige Spielwarenverkäufer (kein Schulabschluss, Lehre geschmissen) dann auch noch allen Ernstes ein bildungsbürgerliches „Kohl oder Scharping. Tertium non datur“ raushaut, könnte man sich wegschmeißen. Aber er sagt auch, es gehe um den ökologischen Umbau des Landes und nicht mehr um Sozialismus oder die „proletarische Revolution.“ Fischer prophezeit dann noch die Energiewende durch Rot-Grün samt Tempolimit. Selbst mit Letzterem ist er heute immer noch seiner Zeit voraus.

Man versteht nach so einem Gespräch, warum Arno Luik nur in Ausnahmefällen denselben Interviewpartner ein zweites Mal trifft. Sein Prinzip ist: Einmal, aber richtig. „Ich versuche beim ersten Mal so viel rauszuholen, dass die Sache dann für mich erledigt ist.“ Auf dieses eine Mal bereitet er sich vor „wie auf eine Examensprüfung“. Man könnte auch vermuten: Wie auf einen Kampf. Paukt sich Informationen und Zitate rein, führt Hintergrundgespräche, immer auf der Suche nach einem möglichen „Haarnadelriss“, nach einem Weg durch die Deckung. Dann ruft er den Gegner an, um ihm zu sagen, dass das „kein Kuschelgespräch“ wird, das seine Urteile und Vorurteile auszuprobieren gedenke. Wenn Sie ihn nicht kennen, schickt er ihnen alte Gespräche zu, damit sie sich drauf einstellen können. Während der ganzen Prozedur steht immer eins im Vordergrund: die richtige Einstiegsfrage. Sie muss sitzen, sie muss das Spiel eröffnen, sofort die Deckung aufreißen, den Gegner überraschen, aber auch inspirieren.

Das ist das Wichtigste: dass der Gegner sich auf Luik einlässt, dass ihn das Duell reizt, dass er bereit ist, sein Bestes zu geben, Neues auszuprobieren, im Bestreben, Luik zu schlagen, oder – im Moment der Schwäche gar –, ihm zu gefallen. Wenn der Interviewte sich auf den Wettbewerb einlässt, macht er den ersten Schritt, um Luik zu geben, was er haben will: Einen echten Einblick in seine Welt und seinen Kopf. Sagt Luik: „Das Überraschende passiert nur, wenn der andere muss, wenn er dich überzeugen und vereinnahmen will und dann mehr von sich preisgibt, als er preisgeben will.“

Der Schriftsteller Martin Walser etwa sah sich offenbar so mit Haut und Haaren verschlungen, dass er das geführte Gespräch zurückzog und lieber selbst eine literarisierte Version schrieb. Wer Luiks Neugier nicht weckt, von dem will er erst gar nichts. Frank-Walter Steinmeier etwa, der Bundesaußenminister. Interessiert ihn nicht besonders. Keine Brüche, keine Widersprüche, keine Geschichte, der Versuch, sich als Schröder-Imitat durchzumogeln, so wie er sich bisher zeigt: „Die Ausstrahlungskraft einer Büroklammer. Fertig aus, Nikolaus.“

Luik hat ja stets auch Kollegenneid produziert und entsprechende Mutmaßungen, seine Interviews seien in ihrer Härte, Pointiertheit und Zuspitzung am Schreibtisch entwickelt worden. Da hat er vor Jahren schon der Woche selig gesagt, er bemühe sich, das Gespräch „treu wiederzugeben“, und das wiederholt er auf Nachfrage und mit Verweis auf seine Arbeitsweise.

Selbstverständlich ist in dem Buch Luiks erster großer Hit enthalten. Hat ihn zur Marke gemacht. Als Journalist. Es ist das Sportgespräch mit dem jungen Tennisspieler Boris Becker, der kurz nach dem Einsturz der Mauer das westdeutsche Anti-Establishment entdeckt hat, der „frei“ sein will, der die Wiedervereinigung ablehnt, die Bundeswehr gleich mit – und außerdem die sexuelle Treue als etwas bezeichnet, das „ich ganz anders erfahre als die meisten Männer“.

Auch bemerkenswert ist ein Gespräch mit der Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Katarina Witt im Winter 1989/90, in dem das schönste Werbegesicht des Sozialismus – je nach moralischer Verortung des Lesers – als Opportunistin oder Realistin rüberkommt. Bild-Zeitung? „Da kann ich nur sagen: Hands off!“ (Heute leben beide in Symbiose). Playboy? „Die hätten mir alles Geld der Welt bieten können.“ (Mussten sie später gar nicht, und schon war Witt nackig). DDR? Ihr werde jetzt bewusst, dass sie auch ausgenutzt worden sei. Sie habe „schon Widerstand im Kleinen geübt“. Selbst dass es nicht einfach werden würde für Witt, ein Lebensglücksmodell zu finden, zeichnet sich in den Gespräch erstaunlich präzise ab.

Mit Witt erlebt man den Übergang aus Ostsicht, mit Jürgen Kuczynski die DDR, mit dem FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff den Zweiten Weltkrieg und kann dabei Luiks geschichtliche Hauptthese überprüfen: dass die Bundesrepublik nach rechts gerückt sei.

Und die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel? Fragt Luik (im Jahr 2000): „Wie war das für Sie, als die Mauer fiel?“ Sagt Merkel: „Wunderbar. Ich war in der Sauna.“ Mehr wird man von Merkel nie mehr erfahren. Und das muss man auch nicht. Der Satz gehört in die Geschichtsbücher.

Das Gespräch mit dem Kabarettisten Günther Thews erzählt das alternative Künstlerleben post 68 und das Sterben an Aids. Es geht hier nicht bloß um Deutschland, sondern gleich um alles. Solche Gespräche sind ein Beweis, warum es Zeitungen und Zeitschriften braucht. Und ein Ziel, wofür wir sie machen sollten.

Luiks Buch hat vordergründig nichts zu tun mit dem auch grade erschienenen Essayband „Mit dem Kopf durch die Welt“ (S. Fischer) des Journalisten Nils Minkmar (FAS). Der erzählt in „Personal Essays“ von Dingen der Gegenwart, die ihn beschäftigen. Es ist aber interessant, dass man bei beiden den Eindruck hat, man erfahre hier wirklich etwas über Deutschland, die Gesellschaft, uns und die Veränderung, deren Teil wir sind. Was vor kurzem noch „normal“ war an gesellschaftlichen oder politischen Positionen, was heute gedacht und gelebt wird. Das ist mehr als in vielen Büchern, die das doch eigentlich leisten wollen; jenen der professionellen politischen Beobachter, die die politischen Akteure und die Abläufe seit Jahrzehnten beobachten, beurteilen und dann auf die (jeweilige) These zur Weltlage zusammenkomponieren, einmal den Neoliberalismus beschwören, dann das Nichtwählen. Da wird das Intellektuelle häufig ein bisschen sehr in Thesenboulevard verwandelt und dabei gebeugt und vereinfacht. Am Ende kommt eine Talkshow-Predigt raus. Ganz zu schweigen von den vielen Flachprojekten und den Politikern im oder außer Dienst. Bei Luik und Minkmar wird nicht gepredigt. Beide Bücher gieren nicht nach Aufmerksamkeit, aber sie verdienen sie. Kein Katastrophismus, kein Peptalk, nur zwei Linksliberale, die genau hinschauen. Mehr und Präziseres über den Mann, die Individualisierung und Digitalisierung der Gesellschaft als in Minkmars ICE-Essay wirst du selten finden. Über den Politiker und Menschen Oskar Lafontaine habe zumindest ich noch nie so Endgültiges erfahren. Der angenehme Ton ist Teil der Substanz. Der Trick besteht darin, das Handwerk des Schreibens wirklich zu beherrschen.

Also: Die Zeiten, in denen das Fehlen von Schreibstil, der Beschäftigung mit dem echten Leben und der existenziellen Notwendigkeit abgründigen Humors als Ausweis von politischem Qualitätsbewusstsein verkauft werden konnte, sind vorbei. „Im Großraumwagen“, schreibt Minkmar, habe ihn der Schauer der Erkenntnis überlaufen. „Normal war jetzt ich.“ Früher hätte es einen tatsächlich gegruselt. Heute ist das eine sehr gute Nachricht.

ARNO LUIK kommt zum taz-Kongress am 18./19. April in Berlin. Infos unter: www.taz.de/30jahre und im taz.mag am 11. April gibt‘s ein Interview

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