: Russisches Englisch in Deutschland verboten
In Berlin werden Lehrer knapp, dennoch müssen Pädagogen Laub harken. Weil sie Spätaussiedler sind, erkennen Behörden ihre Abschlüsse nicht an
von MARINA MAI
Was deutsche arbeitslose Pädagogen durch Hartz IV befürchten, ist für LehrerInnen aus den GUS-Staaten, die als Spätaussiedler nach Berlin kamen, längst Wirklichkeit. Sie verdingen sich als Etagenservicekraft im Seniorenheim, als Sozialarbeiterin im Jugendtreff, oder sie werden vom Sozialamt zum Laubharken abkommandiert. Nur lehren dürfen sie hier nicht, weil deutsche Behörden ihre Abschlüsse nicht anerkennen.
Zum Beispiel Ludmilla O. Die Musikpädagogin hat fünf Jahre das Konservatorium in Kasachstan besucht, zuvor eine Spezialschule für Musik und die Musikfachschule. In Kasachstan unterrichtete sie Musiktheorie an einer Musikspezialschule. Als sie in Berlin ihren Abschluss anerkannt haben wollte, stolperten die Beamten in der Senatsschulverwaltung über Ludmilla O.s fehlendes Abitur. Das müsse die Mitvierzigerin erst einmal ablegen, anschließend zwei Jahre lang Fächer an der Universität nachbelegen, so der schriftliche Bescheid vom Amt.
Auch Natalie F. soll an der Uni nachsitzen, bevor sie hier unterrichten darf. Sie hat in Russland als Englischlehrerin für Grundschüler gearbeitet. „Wir haben den sieben- und achtjährigen Schülern spielerisch Englisch vermittelt“, erinnert sie sich. Zum Beispiel durch Theater. Englischlehrer an Grundschulen fehlen in Berlin genau wie Latein- und Informatiklehrer an anderen Schulen. Zeitweise gibt es auch für Musik, Bildende Kunst und Sport weniger Bewerber als freie Stellen.
„Ab 2006 werden wir nicht nur in Berlin, sondern bundesweit einen dramatischen Lehrermangel haben, der fast alle Fächer betrifft“, sagt PDS-Schulexpertin Siglinde Schaub. Dann gehen mehr Pädagogen in Pension als Absolventen von den Unis kommen.
Der Senat erwägt, Hochschulabsolventen mit Diplom pädagogisch nachzuqualifizieren, also auf Lehramt umzuschulen. Schulsenator Klaus Böger (SPD) will zudem Lehrer aus Brandenburg abwerben, die dort wegen des Schülerrückgangs überschüssig sind. Doch gerade in hiesigen Mangelfächern fehlen auch im Nachbarland Pädagogen. Siglinde Schaub ergänzt: „Mit Lehrern aus Brandenburg kann man den Lehrermangel aus Berlin allenfalls in den ersten Jahren etwas abmildern.“
Niemand hat bisher daran gedacht, Lehrerinnen wie Ludmilla O. und Natalie F. ein individuell auf sie zugeschnittenes Angebot zu machen, in den Berliner Schuldienst zu treten. Dabei sind unter den Spätaussiedlern, die in den 90er-Jahren nach Berlin kamen, sehr viele Lehrer. Eine Studie des Bezirksamts Marzahn aus dem Jahr 2000 weist den Anteil der „erzieherischen Berufe“ unter den erwerbsfähigen Marzahner Russlanddeutschen mit knapp 10 Prozent aus. Wie viele von ihnen Lehrer sind, weiß niemand.
Es sind viele, sagt die Marzahner Pfarrerin Katharina Dang, in deren Kirchengemeinde sich die Spätaussiedler-Lehrer treffen. Hier bieten sie ehrenamtlich Deutsch-, Englisch- und Computerkurse für Erwachsene und Jugendliche an. Auch eine benachbarte Gesamtschule greift auf dieses Potenzial zurück, um den Förderunterricht für russlanddeutsche Schüler in Deutsch und Englisch abzudecken. Auch dort unterrichten die Lehrer ehrenamtlich.
Ludmilla O. muss nach Worten suchen, wenn sie Deutsch spricht. Ohne Qualifikationen wird sie weder das Selbstbewusstsein noch die Sprachkenntnisse entwickeln, um in einer Schule bestehen zu können. Das weiß sie. Aber das geforderte Abitur wird sie nicht ablegen. „Meine Schulzeit liegt 25 Jahre zurück. Das schaffe ich nicht.“ Die pauschalen Verwaltungsvorgaben schrecken offenbar ab.
PDS-Fachfrau Schaub regt angesichts des bevorstehenden Lehrermangels jetzt an, Spätaussiedlern ein besser zugeschnittenes Angebot zu machen: „Berlin kann es sich nicht leisten, dieses pädagogische Potenzial zu verschenken.“ Allerdings vermutet auch sie, dass die Spätaussiedler nachqualifiziert werden müssten, etwa in Didaktik. „Wie diese Lehrer aber pädagogisch qualifiziert sind, weiß niemand.“
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