: Die Vorgeschichte der „Tätervolk“-Rede
Der Historiker Ulrich Herbeck fördert Material gegen Martin Hohmanns antisemitischen Obskurantismus zutage
Manchmal verleiht die Tagespolitik der Geschichtsschreibung Flügel. So erging es dem Osteuropa-Historiker Ulrich Herbeck, dessen Dissertationsprojekt – die Entstehung des Feindbildes „jüdischer Bolschewismus“ in Russland 1917–21 – dank der Hohmann’schen Einlassungen jähe Aktualität erhalten hat. Das Osteuropa-Kolloquium der Uni Viadrina in Frankfurt an der Oder lud Herbeck vorgestern zu Referat und Diskussion. Ein Glücksgriff, denn zum Thema liegen bislang nur wenige Ausarbeitungen vor.
Herbeck betonte eingangs, dass die Vorstellung vom „jüdischen Bolschewismus“ im Bürgerkrieg aufseiten der „Weißen“ allgegenwärtig gewesen sei. Die Realität habe dem nie entsprochen, waren doch in den Reihen der anderen linken und liberalen Parteien weit mehr Juden organisiert als bei den Bolschewiki. Aber wie in allen Wahnsystemen war eine solche Korrespondenz auch gar nicht notwendig.
Im russischen nationalkonservativen Milieu galten die Juden während der gesamten späten Zarenzeit als Bedrohung der gottgewollten staatlichen Ordnung. Im Gegensatz zum westlichen Antisemitismus, der gegen die Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts Sturm lief und deshalb oft auch eine kritische Pointe gegenüber der Staatsmacht enthielt, traten die russischen Antisemiten als Wahrer der Autokratie und des rechten Glaubens auf. Schon die Revolution von 1905 wurde von dieser Seite als Werk der Juden angesehen.
Die konservativen Intellektuellen als Stichwortgeber unterschieden dabei zwischen der messianischen Berufung der russisch-orthodoxen Kirche, die Welt vor dem Glaubensabfall zu bewahren, und dem falschen Messianismus des Judentums, der auf eine Erlösung im Diesseits setze. Dieser falsche Messianismus musste im gottlosen Bolschewismus münden. Der Bolschewismus, das war in den Augen dieser Stichwortgeber der manifeste Antichrist.
Das Klischee vom „jüdischen Bolschewismus“ setzte sich erst nach der Emanzipation der russischen Juden im Gefolge der Februarrevolution durch und erst, nachdem im Gefolge des Bürgerkrieges der Staatsapparat zusammenbrach. Nach der Niederlage der „Weißen“ schoben sich in der Emigration die zaristischen Generale und die ukrainische Nationalbewegung gegenseitig die Verantwortung für die entsetzlichen Pogrome zu, die sich hauptsächlich auf dem Boden der Ukraine zugetragen hatten. Die orthodoxe Kirche sah sich nach der Oktoberrevolution ihrer Privilegien beraubt und schroffer Verfolgung ausgesetzt. Sie war während des Bürgerkriegs in der Frage des Antisemitismus gespalten. Der Bolschewismus, so die Mehrheitsmeinung, ist der Antichrist, aber die vorgeblich jüdischen Wurzeln werden nur indirekt angesprochen. Hingegen setzt eine Minderheit auf offen antisemitische Agitation, so mit der These, Russland sei zum Spielball jüdisch-freimaurerischer Kräfte geworden.
Herbecks Referat wie die anschließende Diskussion förderten reichlich Material gegen den Hohmann’schen Obskurantismus zutage. Aufklärung tut Not, und sie ist trotz einer weitläufigen Gegenmeinung nicht vergebens! CHRISTIAN SEMLER
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