: Selbst ist der Boom
Der Baumarkt und der deutsche Charakter: Kompliziert, riecht nach Arbeit – und wird nun doch irgendwie trendy. Ein Frontbericht aus dem Irrgarten der Dübelregale
von CHRISTIAN FÜLLER
Endlich ist er dran. Geduldig hat der ältere Herr gewartet. Hat in der Schlange abwechselnd seinen Notizzettel und den Sägemeister vor ihm fixiert. Den Mitarbeiter des Baumarkts, der für Kunden wie ihn Holz zurechtschneidet. Auf dem Zettel hat er die Maße für sein kleines Bauvorhaben notiert. Penibel. In Sütterlinschrift.
„Spanplatten bitte“, sagt der alte Mann zum Sägemeister, als er dran ist. Und will schon mit Längen und Breiten ins Detail gehen. „Spanplatte is okay“, gibt der Chef der Holzabteilung nicht ohne Triumph zurück, „bloß welche?“ Darauf war der Kunde nicht vorbereitet. Gibt es etwa mehrere Sorten Spanplatten? „Geleimten Pressspan, ganz normalen“, sagt er trotzig. In der Warteschlange ahnt man: Das wird Zeit kosten.
Die hübsche Blonde, die ihr schwarzes Prada-Täschchen noch fester unter die Achsel klemmt. Der junge Mann, der samt Kleinfamilie in der Schlange steht. Sie und all die anderen wissen: Das war ein schöner Versuch des Herrn mit den präzisen Maßen, die Einfachheit früherer Verhältnisse zu beschwören. Und ein vergeblicher. Was ist denn heute noch normal im Kosmos der Heimwerker? Schrauben, Abflussrohre, Rollos, Farben – nichts davon gibt es in einer Ausführung. Alles ist möglich, anything goes. Die „Neue Unübersichtlichkeit“, mit der die Frankfurter Schule in den 70er-Jahren am geistigen Überbau der Gesellschaft herumtheoretisierte, sie hat längst deren Unterbau erreicht. Materialien, Werkzeuge, Baustoffe – ein Meer der Möglichkeiten. Vor dem Kaufrausch steht die Qual der Wahl.
Samstag Mittag gegen elf. Ein Heimwerkermarkt in Berlins Mitte. Die Kundschaft, die hierher kommt, will kaufen. Obi vemeldete sogar im Krisenjahr 2002 ein Umsatzplus, Hornbach überraschte dieses Jahr mit einem 25-Prozent-Zuwachs. Das zeigen auch die Horden vor dem Dutzend überlasteter Kassen. Sie wissen, was sie wollen. Und doch ist die Baumarkt-Kundschaft unsicher. Denn das Angebot in den Regalen ist bisweilen präziser als Wille und Vorstellung der Helden des Do it yourself. Das Universum der Dübel, Dosen und Dämmstoffe nötigt Respekt ab. Wissbegierige Grüppchen scharen sich um Verkäufer, die in den Kosmos des Heimwerkelns einführen. Selbst die Warteschlange am Holzstand gewährt, trotz Großstadthektik, zwei Minuten Aufmerksamkeit. Für einen Schnellkursus in Spanplatten.
Neben die schlechte alte Pressspannplatte, die einst wegen Dioxinverseuchung Furore machte, hat der Fortschritt zwei ganz neue Formen gesetzt. Die „mitteldichte Faserplatte“, MDF, deren Oberfläche so glatt ist wie ein Babypopo. Weil sie viel kleinere Späne enthält als ihre ordinäre Vorgängerin. Holz garantiert ohne Spreißel – ein Segen der modernen Holztechnologie gewissermaßen. Leider liegt in der durch einen dünnen Harzüberzug erreichten Glätte zugleich die Tücke der MDF. Denn Sägen darf man diese Platte nicht einfach. Das Hin und Her des Schneidblatts würde sonst das Harz erhitzen – und die Säge verkleben.
Oder vielleicht lieber das OSB oder „Oriented Strand Board“. Ein Hochleistungswerkstoff, raunt der Fachmann. Alle Aufmerksamkeit ist ihm nun sicher. Sogar der elfjährige Filius aus der wartenden Kleinfamilie, der im Geiste hier gewiss schon mit einer Kettensäge aufgeräumt hat, ist jetzt ganz Ohr. Das OSB ist die Königin der Spanplatten. Lange Furnierstreifen, die strands, sind in drei Schichten ausgerichtet, genauer: oriented. Das bringt Formstabilität. Und hohe mechanische Festigkeit. Gute Heimwerker kennen das Verfahren aus der Sperrholzherstellung. Sagt der Sägemeister.
In der Schlange mag er damit Neugier befriedigen. In den Kommunikationsabteilungen der boomenden Baumarktbranche käme er nicht gut an. Unterschwelliges Triumphieren oder Hochnäsigkeit im Holzfällerhemd mögen die Marktmanager gar nicht leiden. Der Mann wäre so gut wie gekündigt. Weil er doziert, statt sich in eine Kundschaft einzufühlen, die ähnlich vielfältig wie das sechsstellige Warensortiment der Heimwerkereldorados ist. Der eilige Handwerksmeister und der Sonntagsbastler mit zwei linken Händen wollen gleichermaßen freundlich und informativ bedient sein.
In der Werbung ist es schon so weit. Obi will das von Sabine Christiansens Experten depressiv geredete Land aus der Stimmungsmalaise befreien. Der orange Marktführer der 17-Milliarden-Euro-Branche wirbt damit, dass bei ihm der Aufschwung schon da ist. Hornbach, unter den Wettbewerbern der aggressivste, geht die Kunden auf die zupackend-erotisierende Tour an – er assoziiert in Fernsehspots Häuslebauen mit Liebemachen. Das Kreischen des Sägeblatts mutiert da zum orgiastischen Schrei. Aber die Kunden, die dann mit dem Meterstab in den Markt kommen, sind viel prüder, zickiger, komplizierter. Für Verkäufer eine fast unlösbare Aufgabe.
Frau Reinhard kennt ihre Baumarkt-Neurotiker. „Wir dürfen dem Kunden natürlich nicht sagen, dass er selbst schuld ist, wenn was schief gelaufen ist“, berichtet die Fachberaterin und gelernte Werkzeugmacherin. Ihre Kundenpsychologie ist auf zwei Risikogruppen geeicht: die Schlenderer, die nur mal gucken wollen und unendlich viel Zeit für Fragen dabeihaben. Und die Perfektionisten der Einbildung. Sie glauben, ganz genau zu wissen, welches Werkstück sie wollen – das aber ausschließlich in ihrer Fantasie existiert. „Die Leute verzweifeln dann. Oder sie werden aggressiv“, sagt Frau Reinhard. „Für uns ist es am besten, ganz ruhig zu bleiben.“
In den Unternehmenszentralen der Branche winkt man ab. Nein, spezielle psychologische Schulungen für Baumarktverkäufer gebe es nicht. Zu dem Thema will man sich nicht äußern. Denn, so eine Firmensprecherin über die Rolle des Verkäufers im Servicekonzept der Märkte, „das sind unternehmensstrategische Fragen“. In Wahrheit ist man sich sehr bewusst, wie marktentscheidend der Berater in einem Baumarkt ist. In fast keinem Handelssegment dürfte die Kluft zwischen gefühltem Können und tatsächlicher Fertigkeit so tief sein. Eine Differenz, die der Verkäufer möglichst elegant zu überbrücken hat.
In der Sanitärabteilung kriecht einem Mittdreißiger gerade die Verzweiflung ins Gesicht. Er hatte, so eben mal, beim Baumarkt vorbeihuschen wollen, um das passende Rohrset für eine Küchenspüle abzugreifen. Nun stellt er fest, dass es zwei Dutzend davon gibt. Lauter durchsichtige Beutel, deren Inhalt aus nur scheinbar identischen Rohrstückpuzzles besteht. Drei Stunden und viele Schraubversuche später wird er wieder hier stehen. Voll Hochachtung vor der Profession des Klempnerns. Und voll Unverständnis dafür, dass es diesen einen Rohrwinkel, den er braucht, gar nicht gibt.
Die Branche kümmert sich rührend um solcherlei Kundschaft. Sie stellt in den Märkten TV-Geräte auf und hängt Poster aus, die jeden Handgriff für das Anbringen einer neuen Strukturfarbe erläutern. Das entlaste Berater und Verkäufer, meint ein Baumarktsprecher. Genau wie die Baupläne, die auf Homepages und in Hochglanzmagazinen unters Schraubervolk gebracht werden. Der Clou sind so genannte Convenience-Produkte: Sie suggerieren dem Kunden nur, er habe etwas mit eigenen Händen zustande gebracht, sind in Wahrheit aber Placebos für die Idioten der Handwerkerfamilie.
Diese Familie soll wachsen, das liegt nicht nur im natürlichen Wachstumsimpuls eines Wirtschaftssektors, sondern in der vertrackten ökonomischen Stimmung, die die rot-grünen Gesetzesbastler mit erzeugt haben. Einen echten Boom wird es nicht geben. Aber so schwarz, wie Merkel und Koch das Land reden, ist die Lage denn doch nicht. Also zielt die Baumarkt-Branche geradewegs auf jenen Kundenstamm, der Gerhard Schröder (SPD) einst zum Kanzler machte: die neue Mitte. Zum Selberbauen ist sie eigentlich zu faul – aber für Bulthaup-Küchen und Alessi-Bäder reichte es pekuniär eben nur vor dem Crash der New Economy.
Bisher gehören zum Kundenstamm die Fachleute, die Flaneure, die Versager und, seit den 90ern, die Frauen. Letztere hält die Deutsche Heimwerker-Akademie seitdem mit „Women only“-Seminaren bei Laune. „Weil viele Frauen keine Lust haben, mit schlaubergerischen Männern Kurse an der Stichsäge zu absolvieren“, klärt eine Beraterin auf. Um die neue, die Schröder’sche faule Mitte zu gewinnen, muss die Marketing-Anstrengung freilich größer ausfallen. Analysen wie die gerade veröffentlichte Studie „Was fasziniert die Deutschen 2003?“ zeigen: Das Thema „eigene 4 Wände“ steht nach fünf Jahren Rot-Grün auf Platz zwei hinter „sicherer Arbeitsplatz“. Die in den Baumärkten ersehnte Kundschaft findet einstweilen Aldi geiler (unschlagbarer Preis, super Qualität) und Ikea total hip. Denn das Möbelhaus ist billig – bei klar überschaubarem Bastelaufwand.
Bau- und Heimwerkermärkte hingegen riechen den Kundenscouts von Bauhaus, Max Bahr oder Praktiker noch zu sehr nach Dreck, Schweiß und Arbeit. Ihre Kundschaft ist tendenziell älter als die der Megamarken des Handels. Und die Klientel ist weniger zufrieden – wegen des Know-how-Defizits der Kunden, das deren Berater offenbar nur ungenügend stillen können. Die Baumärkte haben, seit sie das Deutsche Kundenbarometer Anfang der 90er-Jahre als Servicenachzügler identifizierte, zwar mächtig aufgeholt. Aber noch heute rangieren sie mit einer Zufriedenheitsnote von „2 minus“ deutlich hinter der glatten Aldi-Zwei. Stellvertretend für den ganzen Sektor hat daher der neue Vorstandsvorsitzende des Marktführers den prägenden Slogan für die Aufholjagd ausgegeben. Was bei Firmengründer Manfred Maus noch „Stein und Mörtel“ hieß, nennt sein Nachfolger Sergio Giroldi jetzt „Obi muss trendy werden“.
So mag die Zukunft aussehen, wenn die Steuern dereinst nachhaltig gesenkt sind. Aber für die mittelprächtige Gegenwart der Steuerreformen in progress scheint der Baumarkt die ideale Ökonomie für den deutschen Charakter zu bieten: Er ist angemessen kompliziert. Man kann etwas für den Aufschwung tun – und trotzdem dabei sparen. Weil man die eigenen vier Wände verhübscht und die Bastelei obendrein billiger kommt als jedes Fertigprodukt. Und dass ein Baumarkt auch nach seinem Imagewandel noch nach Arbeit schmeckt, ist vielleicht nicht das Schlechteste für eine Nation, die für ihren Fleiß schon immer mehr Stolz aufbrachte als für ihre Schönheit.
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