ZWISCHEN TRAGÖDIE UND KATHARSIS: DIE NIEDERLANDE NACH DEM MORD: Aussichten auf den Bürgerkrieg
Es ist der Albtraum jeder liberalen Gesellschaft. Da wird ein Mensch auf offener Straße brutal erstochen, weil er unverblümt seine Meinung gesagt hat. Der Mord an dem Regisseur Theo von Gogh hat die Niederlande schwer erschüttert. Und er eröffnet nun tatsächlich Aussichten auf jenen Bürgerkrieg, der schon mit Pim Fortuyn und dessen Ermordung befürchtet worden war. Denn der Täter war diesmal ein marokkanischer Fundamentalist.
Van Goghs Mörder soll in Kontakt mit einer Gruppe von 150 Radikalen gestanden haben, die der niederländische Geheimdienst ständig überwacht. Umso erstaunlicher, dass das Verbrechen passieren konnte. Warum, das dürfte jetzt zum Gegenstand erregter Parlamentsdebatten und Ausschüsse werden. Hat man die Gefahr unterschätzt? Das ist die Frage, die jetzt gestellt werden muss.
Doch viele Holländer stellen andere Fragen: Sind wir immer noch zu tolerant? Sind alle Muslime unter uns solche Fanatiker? Sollte man sie nicht am besten alle aus dem Land schmeißen? Schon lange sind die Niederländer nicht mehr so weltoffen, wie sie glauben möchten: Nach dem 11. 9. wurden mehrere Moscheen angezündet, die Gesetze für Migranten verschärft.
Wie gut Theo van Gogh mit seinen Bonmots über marokkanische „Ziegenficker“ in dieses Klima passte, müsste den Niederländern eigentlich Anlass zur Selbstkritik geben. Doch diese Debatte wird jetzt – wie schon bei Fortuyn – von einem schockierenden Attentat überlagert.
Dass Mord kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein darf, ist in demokratischen Gesellschaften der Mindestkonsens. Dieser Konsens wird auch von der Mehrheit der Muslime geteilt: Dass sämtliche marokkanischen Organisationen des Landes ihre Abscheu bekundet haben und viele Einwanderer auf der Gedenkdemonstration in Amsterdam teilgenommen haben, sind ermutigende Zeichen. Ebenso, dass es bislang nicht zu Übergriffen auf Marokkaner gekommen ist. Es ist zu hoffen, dass aus der gemeinsamen Trauer die Niederlande und ihre muslimische Minderheit wieder näher zusammenfinden – so wie dies in Frankreich nach der Entführung der französischen Geiseln im Irak der Fall war. DANIEL BAX
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