piwik no script img

Kräftiger Tritt vom Polizisten

Deutsche Fußballjunioren qualifizieren sich in der Türkei tumultös für die EM

ISTANBUL taz ■ Es gibt Fußballspiele, die sind nach dem Schlusspfiff noch lange nicht vorbei. Das EM-Qualifikationsrückspiel zwischen den U 21-Mannschaften der Türkei und Deutschlands am Dienstag in Istanbul war ein solches. Die Ereignisse kulminierten in der letzten Spielminute. Auer traf für Deutschland. 1:1 in allerletzter Sekunde. Aus der Traum von der EM für die türkischen Junioren, die das Hinspiel in Leverkusen mit 0:1 verloren hatten und nun, statt hoffnungsvoll in die Verlängerung zu gehen, plötzlich vor dem Nichts standen.

Die bedrohliche Stille, in die nach Auers Tor im Nebel des Sükrü-Saracoglu-Stadions von Fenerbahce die fast 48.000 Menschen verfielen, war nur die Ankündigung kommenden Ungemachs. Sekunden später stürmten türkische Ersatzspieler auf das Feld und rannten auf die jubelnden Deutschen zu. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Ein türkischer Reservist sah die rote Karte. Die Begegnung wurde nicht mehr angepfiffen.

Jetzt brach sich der Volkszorn Bahn: Plastikflaschen, Handys, Münzen und abgeschlagene Moniereisen flogen den deutschen Spielern beim Verlassen des Spielfeldes um die Ohren. Einige wurden getroffen, Maik Franz wurde von einem Sicherheitsbeamten geschlagen und Torschütze Benjamin Auer von einem Polizisten ans Bein getreten. DFB-Arzt Michael Preuhs musste Schiedsrichter Michal Benes mit zwei Stichen am Kopf nähen. Erst Minuten später beruhigte sich die Situation.

Nicht aber U 21-Trainer Uli Stielike, der sich in seiner Erregung vergaloppierte. „Was hier vor und nach dem Spiel passiert ist, habe ich noch nie erlebt. Angesichts von zwei Millionen Türken, die bei uns arbeiten, finde ich es respektlos, wenn bei der deutschen Nationalhymne so laut gepfiffen wird, dass man sie nicht versteht. Nach dem Spiel wurden meine Spieler von Polizisten und Sicherheitskräften geschlagen. Das ist doch nicht normal.“ Frage eines türkischen Journalisten: „Wie meinen Sie das mit den zwei Millionen Türken in Deutschland?“ Stielike: „Mit Ihnen rede ich nicht, Sie haben die türkische Brille auf.“ „Und Sie die deutsche!“ „Nein, die sportliche“, sagte Stielike und verließ den Presseraum.

Die deutschen Journalisten gingen hinterher, mit in die Kabine. Erst dort wich die Anspannung von Stielike, der einen Satz machte und in den Armen seines Assistenten Horst Hrubesch landete. „Super, Langer“, rief der Mann aus Ketsch, und endlich bekam die sportliche Analyse ihren Raum. Die Türken waren besser, gestand Stielike. Hamit Altintops Kracher aus 20 Metern in der 68. Minute bedeutete die verdiente Führung, und für einen Moment schien es, als hätten die Deutschen der Wucht der Türken nichts mehr entgegenzusetzen. Aber: „Es war beieindruckend, wie die Mannschaft dann noch einmal zurückgekommen ist“, stellte der extra angereiste Teamchef Rudi Völler fest, der besonders den Stuttgarter Philipp Lahm hervorhob. „Er hat gezeigt, dass er vor einer großen Karriere steht.“

Für Uli Stielike ist der 1,70 Meter kleine Lahm sowieso „der Nächste, der beim Rudi spielt“. Es könnte also durchaus sein, dass der wieselflinke 20-Jährige bei der U 21-EM, die von 27. Mai bis 8. Juni 2004 entweder in Deutschland oder Tschechien stattfindet, fehlen wird und stattdessen mit Rudi Völler zur EM nach Portugal fährt. Für Stielike kein Grund zum Jammern: „Die Jungs nach oben zu bringen, ist schließlich unsere Hauptaufgabe.“ Dies findet auch Völler: „Was zählt, ist die A-Mannschaft, und die profitiert von der Entwicklung, dass immer mehr junge Spieler auf sich aufmerksam machen.“

Zwei Jahre Leerlauf hatte Stielike seinen Spielern für den Fall eines Scheiterns vorausgesagt. Stattdessen sieht er nun einen „Trampolineffekt“ für die WM 2006: „Die Spieler können sich auf höchstem Niveau weiterentwickeln und sich für Olympia qualifizieren.“ Den Türken dagegen droht Post vom europäischen Verband. Wieder einmal. Der Uefa-Delegierte Tom Restall aus Malta hat die Ereignisse vom Dienstag im Sükrü-Saracoglu-Stadion peinlich genau notiert.

TOBIAS SCHÄCHTER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen