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„Die Perspektive ist entscheidend“

Volker Schlöndorff hat mit „Der neunte Tag“ einen Film gedreht, der die Sicht eines KZ-Häftlings nachzuahmen versucht. Ein Gespräch mit dem Regisseur über Geschichte und Fiktion, vermeintliche Darstellungstabus und entschleunigte Bilder

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Schlöndorff, Ihr Film „Der neunte Tag“ geht auf eine wahre Geschichte zurück – wie ja auch ein anderer im Nationalsozialismus angesiedelter Film, „Der Untergang“. Dessen Macher berufen sich darauf, die Ereignisse so wiederzugeben, wie sie waren. Wie halten Sie es mit der Geschichte? Zeigen Sie alles, wie es war, oder haben Sie einen Spielfilm gemacht?

Volker Schlöndorff: Die historische Wirklichkeit – die gibt es ja gar nicht, die ist ja sowieso eine Fiktion. Selbst wenn damals zufällig eine Kamera mitgelaufen wäre, würde diese Kamera Filmbilder zeigen, nicht die Wirklichkeit. Wir kennen ja Bilder aus den KZs, die von den Nazis beziehungsweise von den Alliierten bei der Befreiung gedreht worden sind, und wir wissen, dass jedes einzelne dieser Bilder mit Vorsicht zu genießen ist. Ist das ein Filmbild? Ist das die Wirklichkeit? Ich habe so viel Literatur verfilmt und mich so oft mit Schriftstellern auseinander gesetzt, dass ich eines begriffen habe: Das Entscheidende ist die Erzählperspektive. Wer erzählt, und was hat er gesehen? Alles hat nur der liebe Gott gesehen. Und der hat keine Kamera.

In „Der neunte Tag“ wählen Sie die Perspektive von Abbé Kremer?

Ja. Zumal sich aus der Art, wie Jean Bernard [das historische Vorbild für Abbé Kremer] in seinem Tagebuch das Lager beschrieben hat, eine eindeutige Erzählperspektive ergab. Er hat fast alles in Großaufnahmen erzählt, es geht um Details, nie um große Abläufe oder epische Bilder. Das wollte ich für den Zuschauer noch dadurch verstärken, dass die Bilder zum Teil unscharf sind oder zu flimmern beginnen, wenn die Erschöpfung die Figur übermannt.

Haben Sie sich jemals überlegt, die Anfangsszenen, die im KZ spielen, rauszulassen?

Als ich das Drehbuch las, wollte ich auf Seite zehn nicht mehr weiterlesen. Noch so eine Szene, habe ich mir gedacht, halte ich nicht mehr aus, diesen Horror. Genau an dieser Stelle habe ich umgeblättert, und Kremer wurde entlassen. Da habe ich gedacht: Ah, das ist interessant. Ich bin der Dramaturgie auf den Leim gegangen, mir ist die Fallhöhe gezeigt worden. Und während des restlichen Films habe ich nur die eine Angst: dass er wieder zurückgeht. Denn dann muss ich ja noch mehr solcher Sequenzen sehen. Hinzu kommt, dass Kremer nie ganz in der Normalität ankommt. Das ist ein bekanntes Phänomen bei allen, die das KZ überlebt haben. Es dauerte Monate und Jahre, bis sie sich von ihren Erlebnissen frei machten. Diese flashartigen Einblendungen, mit denen der Film arbeitet, würden nicht wirken, wenn man nicht vorher die KZ-Szenen gesehen hätte.

Die Fragmentarisierung, die Verweigerung des Überblicks haben also vor allem damit zu tun, dass Jean Bernards Tagebuchaufzeichnungen auch so vorgehen?

Ja. Ich habe mir nämlich am Anfang gesagt: Ich bin unfähig, ein KZ so zu filmen, dass ich das Gefühl hätte, es ist wirklich ein KZ und kein Filmset. Aber als ich das Tagebuch gelesen habe, habe ich mir gedacht: So könnte man das machen, so traue ich mir das zu; ich kenne die Begrenztheit meiner Mittel.

Es gibt am Anfang des Filmes eine Kreuzigungsszene. Danach wird Abbé Kremer aufgerufen; er denkt, er ist als nächster dran. Die Bilder dazu stammen von einer Kamera, die jede Orientierung, jede Bodenhaftung verloren zu haben scheint.

Oje! Die Kamera folgt eine Zeit lang seinen Füßen durch den Eisschlamm. Dann sieht sie aus seiner Perspektive das Kreuz, auf das er zugeführt wird, dann seine Reaktion. Aber ein bewusstes Taumeln – schlimmer als das, was die Handkamera sowieso ergibt –, das war nicht beabsichtigt.

Und der Verzögerungseffekt? Manchmal sieht es aus, als wäre die Übermittlung der Bilder verlangsamt.

Ja, das ist sie auch.

Wie bei einer Webcam.

Das ist immer dann so, wenn Kremer einen Angstzustand hat. Dann nimmt er nicht 24 Bilder pro Sekunde wahr, sondern nur zwölf, und jedes wird verdoppelt. Dadurch entsteht ein Effekt, wie man ihn bei einem schrecklichen Autounfall erlebt. Die Wahrnehmung verzögert sich und wird zugleich überdeutlich.

Es geht Ihnen offenkundig darum, den Bruch der Wahrnehmung, den das KZ verursacht, visuell nachzuzeichnen, dem Raum- und dem Selbstverlust eines KZ-Häftlings eine unmittelbare Entsprechung zu verleihen. Besteht dabei nicht die Gefahr der Verdopplung?

Wir haben die entsprechenden Szenen meistens sowohl mit normaler Geschwindigkeit als auch mit dieser Zwölf-Bilder-Technik gedreht, damit wir später, beim Schnitt, dosieren konnten. Es sollte nicht mechanisch werden, sondern jedes Mal wieder überraschen. Jedes technische Hilfsmittel kann ja sehr schnell zu einer Mechanik werden. Das gilt auch für die Farbgestaltung. Wir wollten nicht mit digitalen Mitteln arbeiten, mit Bildentsättigung oder solchen Sachen. Wir wollten aber auch nicht in Schwarzweiß drehen, weil das zu simpel gewesen wäre.

Und welche Technik haben Sie stattdessen gewählt?

Eine alte Filmtechnik. Vom Farbnegativ wurde ein Schwarzweißnegativ gemacht, und die wurden übereinander kopiert. Je nach Sequenz wurde mehr Licht auf das Farbnegativ oder eben auf das Schwarzweißnegativ gegeben, und so konnte man stufenweise von einer normal gesättigten Farbaufnahme bis zu einer Schwarzweißaufnahme gehen.

Warum war Ihnen die Farbreduktion denn so wichtig?

Das entspricht einem Empfinden, das wir alle haben: Zu einer gewissen Zeit gehören gewisse Farben – oder eben keine Farben. Farbdramaturgie gehört einfach dazu. Beim Schwarzweiß kann man natürlich stärker mit Licht und Schatten arbeiten.

Was Sie ja auch tun.

„Der neunte Tag“ ist ausgeleuchtet wie ein Schwarzweißfilm. Wir haben uns gesagt: Wenn es mit der Farbreduktion nicht klappt, dann haben wir zumindest die Beleuchtung so gesetzt, wie man es bei einem Schwarzweißfilm tut.

So wie Sie visuell zuspitzen, so arbeitet auch der Film in den KZ-Sequenzen mit Augenblicken der Zuspitzung. Die Routine, der Alltag, die stillgelegte Zeit: All das sieht man nicht, obwohl sie doch einen Teil des Schreckens bilden. Warum nicht?

Das KZ bildet die Rahmenhandlung. Nachdem ich das Drehbuch gelesen hatte, habe ich mich gefragt: Sind denn die paar Tage in Luxemburg so interessant? Wäre es nicht interessanter, die Abläufe im KZ wiederzugeben? Dass man nicht beides liefern kann, war klar. Doch ein KZ so zu zeigen, wie es etwa Primo Levi oder Jorge Semprún in ihren Büchern tun, also auch mit dem Leerlauf – ich wäre mir nicht sicher, ob man das aushalten könnte, ob nicht Ermüdung und Gewöhnung einträten.

Gibt es ein Darstellungstabu?

Das gibt es nicht mehr. Für meine Generation existierte es. Als wir 1956 zum ersten Mal diese Dokumente gesehen haben, „Nacht und Nebel“, die Leichenberge, war klar: Das kann man nicht darstellen. Als wir in den 60er-Jahren anfingen, Filme zu machen, herrschte der Konsens: Das entzieht sich der Darstellbarkeit. Und dann kam plötzlich die TV-Serie „Holocaust“. Wenn Meryl Streep, die Mutter, nackt am Graben steht und erschossen wird. Wir haben uns gesagt: Das ist die reine Obszönität, Pornografie, das geht nicht. 20 Jahre später erinnere ich mich aber an diese banalen Fernsehbilder fast genauso wie an die Dokumente aus Bergen Belsen. Dieses Darstellungstabu war eben wie vieles auf der Welt nur für einen gewissen Zeitraum gültig.

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