BERNHARD GESSLER STETHOSKOP: Wenn der Arzt das Wort erhebt
Vom menschlichen Körper (lateinisch corpus, griechisch soma) soll also auf dieser Seite die Rede sein. Den Ganzkörperstatus zu erheben ist eine ärztliche Kunst, die Medizinstudenten nach dem Physikum im sogenannten Klopfkurs erlernen sollen – tatsächlich braucht es meist jahrelange Erfahrung, bis aus hier gewonnenen Befunden klare Diagnosen (griechisch, Entscheidungen) werden. Der Status (lateinisch, Zustand) muss mit allen fünf Sinnen und einfachen Hilfsmitteln im konkreten Wortsinne er-fasst und dokumentiert werden. Dabei eignet sich der angehende Arzt einen weiteren wichtigen Teil seiner medizinischen Terminologie an.
Das Schöne und Bizarre an dieser Fachsprache ist, dass sie sich – über ihre griechischen und lateinischen Wurzeln hinaus – bei fast allen Weltsprachen bedient – heutzutage vor allem beim Englischen: Anything goes! Man kann fast alle Wortstämme miteinander kombinieren: zum Beispiel Bodyplethysmografie, extrakorporale Ganzkörperhyperthermie oder Tako-Tsubo-Kardiomyopathie.
Dazu kommen zahllose Orts- und Forschernamen in abenteuerlichsten Kombinationen, zum Beispiel die Lyme-Borreliose oder das Philadelphia-Chromosom.
Die Sprache der Ärzte strotzt auch vor Abkürzungen. Auszug aus einem Arztbrief: „Pat. XY (BMI 40) mit coron. 2 GE und AP CCS III. Ther.: PTCA RIVA u. RCX mit DE-Stent“. Auf Deutsch: Bei dem sehr dicken Herrn XY mit Durchblutungsstörung des Herzens schon bei geringen Belastungen wurde ein Herzkatheter mit Ballonaufdehnung an zwei Herzkranzarterien mit Einlage eines Medikamente absondernden Gefäßgerüsts durchgeführt.
Aus meiner Fachsprache wird also schnell ein Kauderwelsch oder Klinikerslang. Ich gebe es zu: Man kann mit diesem Slang auch wunderbar Sachverhalte verbergen: Wenn Ärzte untereinander besprechen, dass dieser oder jener Patient ein supraorbitales oder ein retronasales oder ein supratentorielles Problem habe, dann bezeichnet das immer den anatomischen Ort des Großhirns. Der Gebrauch dieser Adjektive führt regelmäßig zu einem schiefen Lächeln unter den KollegInnen, und man weiß, was zu tun ist: Überweisung zum Psychiater.
Wer nun glaubt, er könne allein mit dem emsigen Studium des Pschyrembel die Sprache der Mediziner oder gar die (eigene) Krankheit verstehen, wird scheitern: Ein wirkliches Verständnis ergibt sich nicht aus dem Umgang mit Begriffen und einzelnen Fakten, sondern aus der Integration derselben in ein Wissensgebäude – oder in den virtuellen Ganzkörper der Medizin.
■ Der Autor ist Internist in Rastatt
Foto: Privat
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