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Tatort Krieg

Mit Tschetschenien – da macht kein Journalist Auflage, Quote oder auch nur viel Geld und Ruhm. Mit Tschetschenien macht man sich nur die Seele schwer. Der US-amerikanische Fotograf Stanley Greene hat sich Tschetschenien zum Schicksal gemacht.

Ich traf ihn dort zum ersten Mal Ende 1994, als russische Truppen sich gerade anschickten, die verhassten Separatisten in die Steinzeit zurückzubomben. Greene war in der kleinen Journalistengemeinde in Grosny als witzig, neugierig und ziemlich mutig bekannt – einer unter vielen. Er ließ sich Zeit für diese Arbeit, tauchte tief in die Mentalität der Kriegsparteien ein, wurde deren politischer Chronist. Er teilte schäbige Bombenkeller und armseliges Essen mit den Tschetschenen. Er feierte mit ihnen Siege und trauerte um ihre Toten. Ironie: Vielleicht, weil sie von der Russen immer als „Tschornije“, als „Schwarze“ rassistisch verachtet wurden, adoptierten sie diesen schwarzen Amerikaner, der sein Leben immer wieder riskierte um „die Story zu Ende zu erzählen“. Greene ist ein unkorrumpierbarer Humanist, seine Bilder erzählen vom Besten und vom Schlimmsten im menschlichen Dasein unter Kriegsbedingungen. „Ich kann nicht die Welt retten, so naiv bin ich wirklich nicht. Aber es gibt manchmal eine Sache, an der man teil haben will, über die man eine Aussage treffen will, die Bestand haben wird.“

Sein Fotoband überwältigt durch die Präzision und Innigkeit, die ein Journalist entwickelt, wenn er ein Anliegen hat. Die Toten, die Flüchtlinge, die Kriegerinnen, die Soldaten – sie sind komplex und sie schreien danach wahrgenommen zu werden. Denn das war der Verrat des Westens: die Tschetschenen in Stich zu lassen, sie einer russischen Soldateska und fundamentalistischen Islamisten zu überlassen.

„Open Wound. Chechnya 1994 to 2003“ hat eine altmodische Wucht. Die 81 Fotos sind eingebettet in ausführliche Texte und Tagebuchauszüge, Zitate, historische Abrisse. Besonders anrührend: die Ehrenliste der 42 Journalisten, die in Tschetschenien starben.

Marcel Ophuls, der Dokumentarist, hat einmal gesagt, dass Kriegskorrespondenten die „Widerstandskämpfer von heute“ seien. Greenes Fotoband belegt dieses. Es gibt keinen anständigeren Platz als den des Störenfrieds, der im Widerspruch steht zum Anliegen von Regierungen und Militärs und organisierten Gruppen, den Krieg in ihrem Sinne interpretieren zu lassen.SONIA MIKICH, ARD-KORRESPONDENTIN IN TSCHETSCHENIEN 1994–1997

Stanley Greene: „Open Wound. Chechnya 1994 to 2003“, Trolley Ltd.

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