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normalzeitHELMUT HÖGE über Beutewissenschaft

Als Hiwis der postkolonialistischen Forschung unterwegs in der Heimat

Wenn unser Bundeskanzler seine Kollegen in Zentralasien oder im Kaukasus besucht, verspricht er jedes Mal, sich dafür einzusetzen, dass noch mehr junge Leute von dort hier studieren können. Und man denkt sofort: Das ist aber ein feiner Zug von ihm. Pustekuchen! Wenn man genauer hinsieht, was die Studenten aus diesen ehemaligen sowjetbeherrschten Ländern hier an den Unis treiben, dann dreht sich diese ganze wohlwollende deutsche Bildungsentwicklungshilfe komplett um: In Wahrheit ist es nämlich so, dass wir von ihren Studien profitieren!

Da gibt es z. B. zwei georgische Doktoranden, die über die georgische Mafia forschen. Das ist wichtig für alle bundesdeutschen Geschäftsleute, die dort Geschäfte machen wollen, und auch die Bundeswehr ist daran sehr interessiert. Denn die beiden Studis verarbeiten dabei georgisches Archivmaterial, an das kein Hiesiger herankäme, und wenn, dann würde er es nicht lesen können.

Ähnliches gilt für einen kirgisischen Diplomstudenten, der über die krisenhafte Entwicklung in seinem Land schreibt – hervorgerufen durch Stammeskonflikte; für einen südrussischen Studenten, der eine Diplomarbeit über tschetschenische Identitätskonstruktionen verfasste; für einen Mongolen, der eine Doktorarbeit über die Dezentralisierung der Provinzverwaltung plant. Nicht nur übersetzt er dafür alle diesbezüglichen mongolischen Dokumente, sein deutscher Doktorvater ist inzwischen auch noch Berater der mongolischen Regierungskanzlei, die für alle Provinzgouverneure zuständig ist.

Genau genommen verhelfen die ausländischen Studenten ihren Professoren also mit ihren Studien auch noch zu hoch dotierten Posten in ihrem Heimatland, wobei sie ihnen dafür auch noch laufend wichtige Informationen beschaffen. Abgesehen davon, dass diese Studenten natürlich auch immer mal wieder auf die Schnelle was für ihre Dozenten übersetzen bzw. sie über ihre Verwandten und Kontakte daheim mit Unterlagen versorgen.

Die Harvard-Universität hat es vor langer Zeit vorgemacht: Dort war nach dem Krieg praktisch die gesamte Forschung über Osteuropa eine vorgelagerte CIA-Abteilung – und jeder antikommunistische Flüchtling aus dem Sowjetbereich bekam sofort einen Arbeits- bzw. Studienplatz dort. So ähnlich funktionieren jetzt auch viele unserer Uni-Institute. Und wie bei Harvard sind die Studenten und Doktoranden dem hiesigen Staat auch noch dankbar dafür, dass er ihnen erlaubt, das Wissen über ihre Heimatländer hier zusammenzutragen, zu übersetzen und auszuwerten.

In Wirklichkeit müssten sie alle einen anständigen IM- bzw. OibE-Lohn bekommen – mindestens den doppelten Bafög-Satz. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Alle ausländischen Studenten, die ich kenne, leben äußerst bescheiden, jobben des Nachts und sind tagsüber unermüdlich im Dienste der deutschen Auslandsaufklärung tätig. Dafür fahren sie sogar regelmäßig nach Hause, um dort die Archive zu durchstöbern. Daneben interviewen sie ggf. noch Zeitzeugen, Entscheidungsträger, VIPs und sonstige Meinungsmacher. Kurzum: Tagtäglich sind hunderte von angehenden Akademikern in ihren Ländern als Beutewissenschaftler für die Deutschen unterwegs. Es ist eine ganze intellektuelle Ostlegion! Und sie tun das gerne, denn man hat ihnen eingeredet, dass sie hier von den Dozenten noch viel lernen können und ihrem Land damit helfen: In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt! Aber das wird geschickt camoufliert, indem man ihnen z. B. ihr Leningrader Soziologiediplom nicht anerkennt und einer Prager Juristin noch nicht mal das Abiturzeugnis.

Auf diese Weise sind sie so glücklich, dass sie irgendwann hier trotzdem immatrikuliert wurden, dass sie alles tun, was im deutschen Forschungsinteresse liegt. Und dieses wiederum läuft zusammen mit dem amerikanischen darauf hinaus, den ehemaligen sowjetischen Einflussbereich nach und nach wissenschaftlich-wirtschaftlich zu durchdringen. Wir haben es hierbei mit einer ebenso verlogenen wie infantilisierenden Postkolonialpraxis zu tun!

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