ausgehen und rumstehen: Dreißig gefühlte Stunden Kreuzberg
„O Kreuzberg, du Muse des fantasierten Nachtlebens meiner frühen Teenagerjahre“, murmelte ich am Donnerstagabend immer wieder in einem Wagen der U 8 vor mich hin. Ich war aufgeregt, brachte mich der Zug doch zum SO 36, das ich zum letzten Mal mit Siebzehn von innen gesehen hatte. Schon damals war ich in der Kasse ausgelacht worden, weil ich einen schlimmen Schluckauf mit mir rumtrug, den ich einem Gericht mit dem Namen „Der Sultan fiel in Ohnmacht“ zu verdanken hatte.
Heute schlug ich mir beim Aufheben von Kleingeld das Knie auf und verwechselte Eingang mit Toilette, was abermals Gelächter am Kassenhäuschen hervorrief. „Na ja“, versuchte ich mich zu trösten, „im Unterschied zu anderen Stadtbezirken ignoriert einen hier wenigstens keiner.“
Ein schöner Abend mit viel Musik sollte es werden, drüben auf der anderen Seite der Stadt. Ich begleitete einen jungen Popmusiker, der hier Kollegen und Freunde besuchen wollte, die zum Beispiel Spankings und Cobra Killer heißen. Erstere sind eine neue Hoffnung am ergrauten Rockabilly-Himmel, ein attraktives Duo aus dem jungen und einem etwas älteren Rhett Butler, das endlich mal ein Schlagzeug nach vorne stellt. Sähe anders aber auch komisch aus.
Überhaupt, was für einen guten Sound das SO 36 hat! Cobra Killer bekamen endlich die Umgebung, die sie verdienen: Nicht dieses kleine Club-Gerumse wie beim letzten Mal im Bastard, das hier wirkte fast wie im Wembley-Stadion, nur ohne Robbie Williams drin. Der Show bekam das prima, so viel Stagediving war nie. Oft reichte ich den hübschen Po von Cobra Gina D’Orio an Nachstehende durch, ich tat es gerne und behutsam. Die beiden älteren Damen im Glencheck-Kostüm in der Reihe vor mir waren begeistert. „Mund auf! Augen zu! Stecker raus! Ich dreh durch!“, rief die eine immer wieder mit gereckter Faust, während Rotwein und Spaghetti auf sie niederregneten. Was wohl Romuald „Grinsekatze“ Karmakar da zu suchen hatte? Der Regisseur turnte jedenfalls immer wieder auffällig geschäftig über die Bühne und hielt mit der Begeisterung eines Pennälers aus der Super-8-AG immer dann drauf, wenn es dort besonders stark nach Sex und Skandal aussah.
Nach Skandal und vor allem nach Sperrbezirk sahen die Dinge dann auch später im Barbie Deinhoff’s in der Schlesischen Straße aus: Nur weil zwei amerikanische Mädchen und ihr mitgebrachter Sklave im Hinterzimmer Rapmusik darboten, die irgendwo in dem angrenzenden Haus als Lärmbelästigung ausgelegt wurde, vertrieb uns eine Hundertschaft Polizisten aus diesem bunten Paradies voller hübscher Menschen.
Und weil bis dahin erst gefühlte 26 Stunden vergangen waren, mussten wir dringend weiter, jemand kannte noch einen neuen Laden um die Ecke, das Monster Ronson’s Sing Inn in der Lübbener Straße. Hinter einer garstigen Mischung aus Spiegeldisco und Billiardcafé tun sich hier in einem Séparée geheime Türen zur Glückseligkeit auf: In durchsichtigen gepolsterten Karaoke-Kammern drängten sich so viele entfesselte Menschen, dass die Gummiwürfel jeden Moment in den Raum umzukippen drohten. Ich werde von Fremden umarmt und soll mitmachen. Leider bin ich zu betrunken, um den Text von „God Save the Queen“ vom Monitor zu entziffern, stattdessen singe ich „Anarchy in the UK“, was niemanden stört. Die Geschichte von „Kids in America“, meiner ersten Single, und wie ich dazu im Hobbykeller meiner Eltern versucht habe, den Sohn des Ortsvorstehers rumzukriegen, will dann aber doch keiner mehr hören.
Nach draußen konnte ich erst wieder am Sonntag. Vor dem 103 auf der Kastanienallee schaute ich in die leeren Augen der dort auf- und abgehenden Maxim-Biller-Puppe. Ich wäre besser drin geblieben. LORRAINE HAIST
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