: Bildungslücken bringen Umsatz
Die Nation starrt wegen Pisa nervös auf besseres Lernen. Derweil boomt ein Nebenzweig der Bildung: das milliardenschwere Nachhilfebusiness. Die Nachmittagspaukerei hält selten, was sie verspricht – und benachteiligt Kinder aus ärmeren Schichten
VON RÜDIGER-PHILIPP RACKWITZ
Rund ein Viertel geht fremd. Satte 25 Prozent aller deutschen SchülerInnen nehmen mindestens einmal pro Woche nachmittags zusätzlichen Privatunterricht. Und das oftmals länger als sechs Monate am Stück. Das ergab eine aktuelle Auswertung mehrerer Studien zum Thema Nachhilfeunterricht. *
Das Fremdgehen mit Nachhilfelehrern kommt teuer. Die deutsche Elternschaft blättert jährlich mindestens 2 Milliarden Euro auf den Tisch – Tendenz steigend. Am gefragtesten sind die Kernfächer Mathematik, Englisch und Deutsch. Der Grund dafür sind allerdings längst nicht mehr nur unterdurchschnittliche Noten oder eine drohende Ehrenrunde. Nachhilfeunterricht wird immer häufiger zum Notentuning in Anspruch genommen – um den Numerus clausus des gewünschten Studienfaches zu knacken oder die Chance auf einen Ausbildungsplatz zu verbessern.
Deshalb sind es schon lange nicht mehr nur MitschülerInnen, Nachbarn, Verwandte oder StudentInnen, die nachmittags zu erklären versuchen, was morgens im Unterricht nicht verstanden wurde. Neben den öffentlichen Schulen hat sich längst ein florierender Bildungsmarkt etabliert – mit zahlreichen gewinnorientierten Organisationen wie dem „Studienkreis“ und der „Schülerhilfe“. Mit einem flächendeckenden Filialnetz zählen sie zu den größten kommerziellen Instituten, die aus Notendruck und Bildungsmisere Kapital schlagen.
Prinzipiell kann jeder selbst ernannte Hobbypädagoge Räume für Gruppenunterricht mieten oder Einzelunterricht zu Hause anbieten. Eine Überprüfung, was im Unterricht passiert oder gelehrt wird, findet nicht statt. Geworben wird mit allem, was morgens in überfüllten Klassen und bei gestressten LehrerInnen zu kurz kommt: individuelle Betreuung der SchülerInnen in Kleingruppen, Einzelunterricht, Kooperation mit Eltern, das Schließen von Wissenslücken – ja, sogar „Spaß am Lernen“.
Die Realität sieht meist jedoch anders aus: Der Leistungsdruck der Schule überträgt sich auch auf den Nachhilfeunterricht. Egal ob privat oder institutionell, inhaltlich wird Nachhilfe hauptsächlich von Hausaufgaben, Stoffwiederholungen und Vorbereitungen auf Klassenarbeiten bestimmt. Vermittlung von Lern- und Arbeitstechniken, die schon im Schulunterricht notorisch zu kurz kommen, machen auch im Nachhilfeunterricht nur einen geringen Anteil aus.
In einer Studie von Margitta Rudolph („Nachhilfe – gekaufte Bildung?“) bezeichneten 100 Prozent der befragten institutionellen NachhilfelehrerInnen ihren Unterricht als „Reparaturprozess“, statt als „Lernzuwachs durch Erwerb von Lern- und Arbeitstechniken“. Dadurch besteht für viele NachhilfeschülerInnen die Gefahr, von dem nachmittäglichen Zusatzunterricht abhängig zu werden. Da kann es nicht verwundern, dass Nachhilfeunterricht zunehmend auch im Dauerabonnement genommen wird. Oftmals sind die Lerngruppen in Instituten aber auch alters-, schul- und leistungsheterogen zusammengesetzt, berichtet eine Institutsnachhilfelehrerin. „Sinnvoller Unterricht ist da kaum möglich. Der Unterricht besteht deshalb oft nur aus Hausaufgabenbetreuung“, fasst sie ihren Job zusammen.
Ein Austausch zwischen Schule und NachhilfelehrerInnen findet kaum statt. Die wenigsten Lehrkräfte der Schulen wissen, welche ihrer Zöglinge nachmittags Zusatzunterricht bekommen – denn Nachhilfe zählt immer noch als Stigma: Wer gibt schon gern zu, dümmer als die anderen zu sein? Außerdem befürchten viele Eltern, dass ihre Sprösslinge in der Schule strenger bewertet werden, wenn bekannt wird, dass allwöchentlich eine Extraportion Bildung verabreicht wird. So kochen LehrerInnen und Privatpauker jeweils ihr eigenes pädagogisches Süppchen – anstatt Leistungsdefizite gemeinsam anzugehen.
Trotzdem schafft es Nachhilfe häufig, das Sitzenbleiben zu verhindern oder Zensuren zu verbessern. Die Zufriedenheit der Eltern und SchülerInnen mit Nachhilfeunterricht ist insgesamt sehr hoch, wobei die private Einzelnachhilfe besser abschneidet als institutionelle. Offen bleibt die Frage, ob die gestützten Eleven nach Beendigung eines Nachhilfeverhältnisses ihre Leistungszuwächse halten können.
Die Hauptabnehmer sind nach den jüngsten Untersuchungen zu einem Drittel GymnasiastInnen und zu knapp 30 Prozent RealschülerInnen aus wohlhabenderen Schichten. GrundschülerInnen werden fit gemacht, um den Sprung auf die Realschule oder das Gymnasium zu schaffen. Von den Jüngsten bekommt nahezu jeder Fünfte Zusatzunterricht, wobei hier noch die private, verwandtschaftliche oder elterliche Nachhilfe überwiegt.
Doch auch für den Nachhilfeunterricht gilt, was Pisa für die öffentlichen Schulen konstatiert hat: survival of the richest. „Bei gleichem Notenstand“, so steht es in einer Sonderauswertung zu Pisa 2000, „erhalten Arbeiterkinder weit seltener Nachhilfe als Kinder der ‚oberen Dienstklasse‘“. Zu deutsch: Eltern aus gehobenen Schichten zücken den Geldbeutel, wenn ihre Sprösslinge in der Schule durchhängen. Unter HauptschülerInnen aus in der Regel sozial benachteiligten Schichten ist indes mit unter 10 Prozent das geringste Nachhilfeaufkommen zu verzeichnen.
Immerhin kostet eine private Nachhilfestunde ab 10 Euro aufwärts. Im institutionellen Bereich wird schnell das Dreifache für eine Stunde Extrabildung verlangt. Das geht auf Dauer ins Geld. So bleibt Kindern aus sozial schwachen und oftmals bildungsferneren Elternhäusern zusätzliche Hilfe bei Leistungsproblemen in der Schule häufig verwehrt, während für SchülerInnen aus wohlhabenderen Schichten Bildungschancen erkauft werden können. Wenn sich aber neben den öffentlichen Schulen ein zweiter, kommerzieller Bildungsmarkt etabliert, der aus dem bundesdeutschen Bildungsnotstand Kapital schlägt und die Abhängigkeit der Bildungschancen von der finanziellen Potenz noch weiter verschärft, kommt das einer Bankrotterklärung des bundesdeutschen Schulsystems gleich.
* Der Autor studiert Pädagogik und hat im Sommersemester 2004 alle wichtigen Studien zur Nachhilfesituation in Deutschland analysiert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen