: „Die Probe des Atemraubs“
Thikwa, das Theater von Menschen mit geistiger Behinderung, erarbeitet ein „Don Giovanni“-Stück. Noch läuft nichts glatt, weil das reale Ich dem gespielten in die Quere kommt. Ein Probenbericht
VON WALTRAUD SCHWAB
Don Giovanni ist Analphabet und Don Octavio Spastiker. Donna Filippa wiederum ist Autistin, der Kriminalkommissar aber, der eine Frauenentführung aufklären soll, sitzt im Rollstuhl. Kein Kunstgriff ist das, den sich Schlingensief, Castorf oder sonst ein Regisseur, dessen Markenzeichen Tabubruch ist, ausgedacht hat. In dieser Geschichte ist alles authentisch: Don Giovanni kann nicht lesen und schreiben, Octavio nicht wie ein Wiesel rennen, Filippas Welt ist unerschlossen, und des Kommissars Beine versagen den Dienst. Zusammen mit den weiteren Protagonisten des Stücks „Don Giovanni“, frei nach Mozart, stehen sie im Probenraum des Theaters Thikwa in der Oranienstraße in Kreuzberg.
Thikwa ist das einzige Theater von Menschen mit geistiger Behinderung, bei dem die Schauspieler angestellt sind. Täglich kommen sie, erarbeiten Stücke, schneidern Kostüme, bauen Requisiten, lernen Texte, werden im Sprechen geschult, spielen durch, entwickeln Musik, führen auf. Eigentlich ist Thikwa mit einer klassischen Behindertenwerkstatt vergleichbar – bis auf einen Unterschied: Der Mehrwert, den die hier Arbeitenden schaffen, heißt Kunst.
Die Aufführung von Don Giovanni ist fürs Frühjahr geplant. Derzeit stehen die Schauspieler und Schauspielerinnen noch in der abgedunkelten Fabriketage und versuchen, das gespielte Ich und das eigentliche Ich voneinander zu trennen. Gerade konnte Don Octavio es nicht verhindern, dass Don Giovanni ihm seine Donna Anna entführte. Octavios Wut reichte nicht aus, den Frevel des Frauenentführers zu unterbinden. Zudem geben seine geschmeidigen Bewegungen, durch Spasmen begrenzt, seiner Verliererrolle Kontur – obwohl auch sein Gegenspieler Giovanni nicht wie ein Machotyp, sondern wie ein Loser daher kommt.
Durch die Behinderung erhalten die Figuren eine mehrschichtige Deutung. Einerseits wirkt die Behinderung als Störfaktor in einer perfekten Gesellschaft und bringt die Zuschauer in den Konflikt, sie wegdenken oder ihr nachspüren zu wollen. Andererseits jedoch legen die Handikaps auch die Schwächen und den darin liegenden psychischen Zwiespalt jedes gespielten Charakters bloß: Der Macho – ein Loser! Der Geprellte – ein Schwächling! Diese Doppelung verleiht den Figuren ungeahnte Intensität, die sich bereits bei den ersten Proben zeigt. An der Frage, wer der Stärkere ist, wird sich auch ein realer Konflikt unter den Darstellern entfachen.
Bevor es so weit ist, versucht Octavio noch, beim Kriminalkommissar im Rollstuhl Anzeige wegen des Frauenraubs zu erstatten. „Hab dienstfrei“, sagt der. „Und die Wache?“ „Hat auch dienstfrei.“ Ob er über Funk einen Kollegen holen könne, fragt Octavio. „Funk ist kaputt.“ „Das kauf ich Ihnen nicht ab“, sagt Octavio, „dann rufen Sie eben mit dem Handy an.“ „Gerade runtergefallen. Auch kaputt“, meint der Kriminalkommissar. Andere mischen sich ein. Das kann nicht sein, dass alles kaputt ist.
Da taucht Don Giovanni wieder auf und wird zur Rede gestellt. Wozu zur Rede stellen? Er hat doch eine Pistole. Damit zielt er auf den Inspektor. Ein schepperndes Peng ist zu hören. Allein – der Kommissar lässt sich nicht erschießen. Noch mal peng. Der Inspektor lebt weiter. Wieder peng. Der Inspektor brüllt, dass er sich von so einem wie dem Giovanni niemals umbringen lassen würde. Darauf peng. „Du kannst mich gar nicht erschießen, du Verlierertyp, du.“ Peng. Peng. Der Inspektor bekommt einen Wutanfall. Weshalb soll er dem verhinderten Frauenhelden unterlegen sein. Er will von so einer Niete nicht abgeknallt werden, schreit er. Peng. Peng. Peng.
Jetzt rastet der Inspektor erst recht aus. Man solle ihn in Ruhe lassen, nicht immer auf ihm herumhacken. Er mache das nicht länger mit. Er reißt sich die Brille vom Gesicht und wirft sie durch den Probenraum. Woraufhin auch Giovanni die Schnauze voll hat, aus dem Zimmer rennt und die Tür hinter sich zuknallt. „Die Probe des Atemraubs“, kommentiert Peter Pankow, einer der Darsteller, die Szene.
Bei Thikwa wird Oper in ungefälliger Tonart gespielt. In einer Mollvariation, die nichts verheimlicht. Scham nicht und Trauer nicht, nicht Wut und auch nicht Eigensinn. Weil die Spieler nah dran sind an sich, ist die Haut zwischen dem einen Ich und dem anderen Ich dünn. „Ihr habt die Rolle verlassen“, sagt die Regisseurin Astrid Vehstedt, als sie sich nach dem Probeneklat mit den Protagonisten zusammensetzt. „Warum?“
Die Probe bringt an den Tag, was offenbar schon eine ganze Weile unter den Schauspielern gärt: „Konkurrenz. Wer ist der Bessere?“, sagt Gerlinde Altenmüller. „Das ist die Umkehrung der Alltagserfahrung, wo sie die Verlierer sind“, fügt sie hinzu. Sie ist Kostümbildnerin und eine der Begründerinnen des Theaters, das seit 1990 besteht. Erst als Freizeitvergnügen, bei dem Behinderte mit Nichtbehinderten zusammen auftraten, dann als Modellprojekt mit Werkstatt. Seit 1998 wird das Theater mit öffentlichen Geldern bezuschusst.
In der Modellphase hat sich gezeigt, dass die Schauspielerei den Betroffenen enorme Entwicklungsmöglichkeiten bietet: Im gespielten Ich gelingt es Spastikern, ihre Bewegungen besser zu koordinieren, Menschen mit Downsyndrom können ihre Poesie ausleben, eine Mutistin begann auf der Bühne zu sprechen, eine Hysterikerin fand auf der Bühne einen Rahmen, in dem sie ihre Gefühle kontrollieren konnte. Die Mimen übernehmen Verantwortung für die Figur, die sie ausführen. Das wirkt zurück in den Alltag.
Das Wort „Thikwa“ kommt aus dem Hebräischen und heißt sowohl Knoten als auch Lösung. „So was wie: der Knoten im Kopf“, sagt Altenmüller. Der platzt auch beim zweiten Probenanlauf nicht. Diesmal lassen sich die Protagonisten nach anfänglichem Widerstand alle erschießen. Giovanni, der Mörder, stirbt kurz darauf selbst an Herzversagen. Aber Johnny Chambilla alias Masetto erschießt als wieder auferstandener Geist den Giovanni noch mal. „Warum hast du das getan?“, fragt die Regisseurin den Schauspieler mit Downsyndrom. „Er hat es verdient“, antwortet Chambilla. „Einen Toten kann man doch nicht mehr töten“, moniert darauf Jeannette Lange alias Donna Anna. „Ich weiß das. Ich war schon mal auf dem Friedhof.“
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