: Intime Berührung
Die unbestechliche Fotografin Helga Paris interessiert sich für das scheinbar Unscheinbare. Erst in Berlin, dann in Hannover sind ihre Arbeiten zu sehen
VON SANDRA SCHNEIDER
Zu einem ihrer schönsten Bilder gehört „Winsstraße mit Taube“. Es zeigt einen grauen Straßenzug im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg im Nebeldunst. Mit weit ausgebreiteten Flügeln segelt eine Taube auf den Betrachter zu. Der Moment ist in seiner Bewegung eingefroren. So klein diese Taube auf der Aufnahme auch ist, hebt sie sich doch deutlich vom Nebeldunst ab, während alles andere mit der dunklen und grauen Alltagswelt verschmilzt. Die Taube – Symbol der Hoffnung und der Freiheit – erscheint als ein Lichtpunkt in einer tristen Fassadenwelt. Ein kurzes Aufblitzen, ein Zukunftsglaube spricht aus diesem Bild, der unverwüstlich zu sein scheint. Helga Paris hat das Foto in den 70er Jahren aufgenommen.
1939 im pommerschen Gollnow, heute Goleniów in Polen geboren und am östlichen Rand von Berlin aufgewachsen, zählt sie zu den herausragenden Fotografinnen der Nachkriegszeit und wurde dieses Jahr mit dem mit 10.000 Euro dotierten Hannah-Höch-Preis für ihr Lebenswerk geehrt. Zunächst in der Berlinerischen Galerie in Berlin, von Januar an im Sprengel Museum Hannover ist mit der Ausstellung „Helga Paris. Fotografie“ eine Retrospektive ihres Werks aus drei Jahrzehnten zu sehen.
Helga Paris arbeitet seit 1968 als freischaffende Fotografin. Zuvor hatte sie in den 50er-Jahren Modedesign an der Fachhochschule für Bekleidung in Berlin studiert. Wie viele Eltern griff auch sie mit der Geburt ihrer Kinder zur Kamera, um die ersten Lebensschritte festzuhalten, und wurde vom befreundeten Dokumentarfilmer Peter Voigt bestärkt, mehr aus ihrer Fotografie zu machen. So fotografiert sie nicht nur ihre Kinder und ihren engsten Lebensumkreis, sondern flaniert zur Motivsuche immer wieder durch die Straßen von Prenzlauer Berg.
Das scheinbar Unauffällige gewinnt in ihren Fotografien an Gewicht. Wie das Kramen einer alten Frau in ihrer Tasche auf dem Foto „S-Bahnhof Prenzlauer-Allee“, das ebenfalls in den 70er-Jahren entstanden ist. Wahrscheinlich sucht sie gerade nach ihrem Fahrschein. Immer schwingt auch ein Moment des anekdotisch Erzählerischen unterschwellig mit.
Es sind die Menschen in ihrem Alltag und in den Räumen, in denen sie leben, die Helga Paris beobachtet. Ihre Beschreibungen sind ungeschönt. Doch diese Unbestechlichkeit, das abzulichten, was zu sehen ist, wurde nicht immer geschätzt. So löste ihre Serie „Häuser und Gesichter. Halle 1983–85“ einen Skandal aus, der schließlich zu einem Ausstellungsverbot führte. Anstatt die Errungenschaften einer aufblühenden Chemiearbeiterstadt der DDR zu zeigen, sieht man auf ihren Bildern Straßenzüge, die sich durch den feinen Staub und die Rußpartikelchen der chemischen Industrie zusehends verdunkeln. Die Buchpublikation dazu, ihre erste überhaupt, erfolgt 1986 in Westberlin. Erst nach der Wende, Anfang der 90er-Jahre, kann diese Serie öffentlich präsentiert werden.
An fotografische Vorbilder hat sich Helga Paris nie gehalten. Ihre Bildideen entstehen aus der Beschäftigung mit Malerei und Literatur. Besonders die Auseinandersetzung mit der schriftstellerischen Arbeit von Christa Wolf ist für Helga Paris immer wieder wichtig. Auch Helga Paris’ Fotografien sind immer eng mit ihrer eigenen Existenz verbunden. So ist es ihre ganz subjektive Wahrnehmung, die dem Betrachter noch vor dem Motiv auffällt.
In ihrer Serie „Frauen im Bekleidungswerk Treff-Modelle“ wird dieses Beziehungsgeflecht noch einmal deutlich. Helga Paris geht 1984 in den Betrieb, in dem sie während ihres Studiums des Modedesigns als Praktikantin gearbeitet hatte. Es entsteht eine Serie von mehr als 20 Porträtaufnahmen, welche die einzelnen Frauen an ihrem Arbeitsplatz zeigt. Die Porträts strahlen jedoch solch eine unbezwingbare Autonomie aus, dass die Arbeitswelt weit in den Hintergrund rückt, ja nahezu vergessen scheint. Nur der Arbeitskittel erinnert noch daran. Es ist ein Innehalten, eine kleine Verschnaufpause im hektischen Treiben.
Ihre Bilder sind von einer eindringlich zärtlichen Vitalität. Mit ihrer weichen Lichtgestaltung, der feinen Grauabstufung und der strengen Bildkomposition verleiht sie ihren Bildern etwas Verträumtes. Helga Paris bleibt all die Jahre der Schwarz-Weiß-Fotografie treu, die Farbfotografie scheint sie nicht zu interessieren.
Sie unterteilt ihre Bilder klassisch in Vorder- und Hintergrund, wobei sie mit der Akzentsetzung spielt. Unwesentliches lässt sie leicht verschwimmen. In ihrer Serie „Erinnerungen an Z.“ aus den 90er-Jahren wird die fotografische Unschärfe jedoch als dominierendes ästhetisches Stilmittel eingesetzt. Wie ein Déjà-vu, das nicht ganz greifbar ist, spielt sie mit dem Prozess des Erinnerns und Vergessens ihrer Nachkriegskindheit.
Bis 2. Januar, Berlinische Galerie, Berlin; bis 13. Februar, Sprengel Museum, Hannover, Katalog (Holzwarth Publications) 45,00 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen