: Ein devoter Menschenfresser
AUS KASSEL HEIDE PLATEN
Menschenfresserei, sagen Experten seit Beginn des Prozesses gegen Armin M. (42) Anfang Dezember vor der 6. Großen Strafkammer des Kasseler Landgerichts, habe es schon immer und überall auf der Welt gegeben – rituell, als Ahnenverehrung, aus Not. Kannibalismus, sagen die anderen, sei von kolonialistischen Eroberern maßlos übertrieben worden, um die eigene, christliche, Grausamkeit zu rechtfertigen. Im Gerichtssaal 130 D ist dieser Diskurs sekundär. Man wäre gerne anderswo.
Wie soll man sich annähern an einen, der in seiner Kindheit und Jugend nicht gelernt hat, seine Triebe zu steuern, seine Grenzen zu ziehen, der bewusst eines der letzten Tabus westlicher Zivilisation gebrochen hat? Vorsitzender Richter Volker Mütze fragt einfühlsam, manchmal verwundert, aber immer konkret. Der Mann auf der Anklagebank steht Rede und Antwort. Er hat getötet, er hat sein Opfer, den Berliner Diplomingenieur Bernd-Jürgen B. (43), in der Nacht vom 9. zum 10. März 2001 zerlegt, portioniert, ungefähr zwei Drittel der 33 Kilo Fleisch gegessen. Nacken, Schulter, Filet. Gegessen? Armin M. hat Stil, er hat gespeist, seine Mahlzeiten zelebriert, der südafrikanische Rotwein passte dazu.
Die Vorgeschichte der Tat ist eine Reise in die Fiktion der Gothic Novels des 19. Jahrhunderts, der alten Gruselgeschichten, der modernen Horrormärchen des Stephen King, der Kettensägen-Videos und der Darstellung irgend menschenmöglicher Perversionen im Internet. Die Fantasie ist Realität geworden. M. hat B. im Netz kennen gelernt, seit Jahren auf der Suche nach einem, der bereit wäre, sich schlachten und aufessen zu lassen.
„Als gleichberechtigter Partner“
Der Angeklagte ist ein Muster an Geduld. Immer wieder versucht er zu erklären. Da steht er vor dem Richtertisch, sortiert mit Übereifer Fotos, ordnet E-Mails zu, hilft, wo er kann, wie er schon den Kriminalbeamten geholfen hat. Der devote Typ, groß, schlank, schlacksig, wippt auf den Zehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Schultern wie in ständiger Bereitschaft zur Verbeugung vorgeneigt, ein kantiges Gesicht mit schmaler, markanter Nase, die Stimme sonor und schmeichelnd, das Lächeln gewinnend. Armin M. ist ein gut ausehender Mann mit kleinen Schönheitsfehlern. Die flinken Augen liegen zu tief in den Höhlen, klein wie Knöpfe.
Armin M. ist ein Ästhet. Jung sollte das Opfer sein, angenehm anzusehen, intelligent, sympathisch. Und es sollte sich der wechelseitigen Wunscherfüllung „als gleichberechtigter Partner“ ausliefern. Armin M. ist eigentlich ein Verlierertyp. Immer wieder, sagt er, als ginge es um ein Einstellungsgespäch, hätten sich geeignet erscheinende Kandidaten bei ihm „beworben“. Etliche Male ist er rauen Scherzen aufgesessen, ließ sich im Internet Bären aufbinden von Familienessen mit Menschenbraten. M. schlüpfte in jede Rolle, bastelte nach den Fantasien der Chatroom-Partner Metzgerschürze, Fleischerhaken, einen Käfig aus Holzlatten und Draht.
Er schickte Geld für Tickets, wartete vergeblich an Flufhäfen und Bahnhöfen oder geriet an Masochisten, die sich zwar im Rollenspiel als potenzielle Schlachtsau gerierten – bis zum Aufmalen des Schnittmusters von Rippenstück und Hinterschinken –, die sich, Füße nach oben, am Fleischerhaken aufhängen, dann aber den Todeswillen vermissen ließen. Einer, berichtet M. mit leicht beleidigtem Tonfall, sei „zu dick“ gewesen, ein anderer „absolut hetero“. Eine junge Polizeibeamtin, die M. zuerst vernommen hat und ihm anfangs nicht glaubte, bekam den Eindruck: „Der hat wohl wirklich verzweifelt jemanden gesucht.“ M. beschreibt seine Kontaktsuche „wie ein Karussell, das sich immer schneller dreht, wie eine Spirale, von der man nicht mehr runterkommt“.
Beim Treffen mit B. – „Cator“ trifft „Anthropophagus“ – wähnte sich M. am Ziel seiner Wünsche. Die Stunden nach B.s Ankunft auf dem Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe bis zu seinem Tod sind für die Ermittler nur eingeschränkt rekonstruierbar, niemand sonst ist dabei gewesen, als die beiden sich in das tödliche Rollenspiel verstrickten. M. schildert akribisch bis in die Dialoge. Nein, begeistert seien sie voneinander nicht gerade gewesen. B. habe ihn „betrogen“, sich im Internet jünger gemacht, nicht gesagt, dass er in Berlin harten Sex bei Strichern gesucht hatte. Außerdem divergierten die Wünsche. M. wollte „niemandem wehtun“, B. wollte Schmerzen, forderte, dass ihm vor dem Schlachten der Penis abgebissen werde, den er dann mit M. gemeinsam verspeisen wollte.
„Das kannste nicht!“
Fast scheitert das Treffen, B. will abbrechen, er traut M. die Kastration nicht zu: „Das kannste nicht!“, soll er gesagt haben. Wer wen letztlich überredet hat, bleibt unklar. Die Anklage wirft M. vor, er habe die deutlich erkennbare psychische Labilität des Berliners ausgenutzt. B. möchte sediert werden, einschlafen, nimmt von M. beschaffte rezeptfreie Medikamente, Hustentropfen, Schlaftabletten. Lust macht das alles, glaubt man M., längst nicht mehr.
Die Kastration gestaltet sich wie eine blutige Farce. Das geplante Mahl ist dem Reich der Fantasie entrissen und in Echtzeit ein Reinfall. B.s mit dem Messer abgetrenntes Glied ist roh nicht genießbar, zu zäh. M., der devote Wunscherfüller, eilt in die Küche, bereitet das Essen hastig zu, damit, sagt er, Bernd-Jürgen B. an seinem ureigensten Totenmahl teilhaben kann, ehe er bewusstlos wird: „Das war ja sein Herzenswusch.“ M. blanchiert, brät. Der Penis schrumpft in der Pfanne zur Winzigkeit. M. weiß, warum. Er war „zu frisch“, „nicht genug abgehangen“. B., sagt M., sei „enttäuscht“ gewesen. Seine Freude habe er doch noch gehabt, an der Wunde zwischen den Beinen, an dem Blut, das er im warmen Wasser der Badewanne verströmen lässt.
M. umsorgt sein Opfer, wartet fast zehn Stunden auf dessen Ohnmacht. Er tötet ihn kurz vor dem Morgengrauen des 10. März. Kastration, Töten, Ausweiden, Zerteilen hat er auf drei Videofilmen festgehalten – 270 Minuten lang. Sie sind im Gerichtssaal unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt worden und weichen nur in einem einzigen Punkt von den Aussagen des Angeklagten ab: Als er B. endlich aufbahrt, habe er ihn für tot gehalten. Dass das nicht so war, habe er selbst auch erst bemerkt, als er sich die Videos später angesehen habe. Der Gerichtsmediziner sagt: B. habe noch minutenlang gelebt, nachdem ihm M. den Fangstich in den Hals versetzte, habe den Kopf hin und her geworfen, das Herz habe geschlagen, das Blut sei gesprudelt. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Mann noch gerettet werden können.
Der Angeklagte M., sonst stets freundlich und merklich zufrieden mit sich und seiner öffentlichen Rolle als Kannibale, reagiert mit hilfloser Renitenz, will nur „sickerndes“ und wenig Blut gesehen haben. Er habe, sagt er, und zieht ein Plastikdöschen hervor, die Menge nach der Blutpfütze im Video mit Kaffee nachgemessen: nur 75 Milliliter seien geflossen. M. will nicht wahrhaben, sagt sein Rechtsanwalt Harald Ermel, dass er B. tatsächlich getötet hat. Ob er nach der Tat weitere Opfer gesucht habe, wird er später gefragt. Ja, antwortet er freimütig, „das Fleisch war fast alle.“
M. beschreibt seinen Werdegang gründlich. Die Mutter ist dominant, der Vater geht fort, die beiden älteren Brüder ziehen aus. Er habe sich verlassen gefühlt. Schon als Achtjähriger habe er davon geträumt, einen jüngeren Freund zu haben, der „immer bei mir bleibt“. Die Schlachtfantasien begannen mit der Pubertät. Er verheimlicht sie, sammelt Fotos von Körperteilen, verpflichtet sich zu zwölf Jahren Bundeswehr, pflegt homosexuelle Freundschaften. Er will Berufssoldat werden, wird nicht genommen, arbeitet als PC-Service-Techniker. Immer wenn er eine Beziehung hat, sind die Schlachtfantasien nur schwach. Die Mutter ist depressiv, wird pflegebedürftig, stirbt. 1996 wird das Internet für M. eine Offenbarung – Suchbegriff „Kannibalismus, Tod“. Er entdeckt, dass er „nicht allein“ ist: „Ich habe gestaunt, was es so alles gibt.“
„Wie beim Abendmahl“
Das Töten, betont M. immer wieder, sei für ihn „der schrecklichste Moment meines Lebens“ gewesen, ein „notwendiges Übel“, das vor Schlachten, Zerlegen und „Verspeisen“ eben hätte sein müssen. Er habe den Toten durch die Mahlzeiten „achten und ehren“ wollen „wie beim Abendmahl“. Befriedigt habe ihn die „Pietät“, „die Erinnerung an diesen Menschen“ und dass „der verstorbene Körper nicht einfach nutzlos weggeworfen wird“. Und dank der an drei Stellen im Garten vergrabenen Reste habe es auch „etwas“ gegeben, „wo man hingehen kann und vielleicht in 100, 1.000 oder in 10.000 Jahren noch etwas hat“.
Die Polizeibeamten, die M. im Winter 2002 nach einem Hinweis eines Internetnutzers festnahmen, verhörten, scheinen ihm durchweg wohl gesinnt. Sie loben seine Mitwirkung, seine Offenheit, glauben ihm. Fast scheint es, dass sie nach Entlastung suchen, um Tat und Täter akzeptieren zu können. Sie diagnostizieren die „verzweifelte Suche“ nach dem Opfer, „eine Art Krankheit“ vielleicht, eine „herrische Mutter“ und „Erleichterung“ nach dem Geständnis“.
Das Verfahren stellt das Gericht nicht nur vor moralische, sondern vor allem vor juristische Probleme. Die Anklage lautet auf Mord. Er sei zur „Befriedigung des Geschlechtstriebes“ begangen worden und zudem, um eine andere Straftat zu verwirklichen: die Störung der Totenruhe. Dem widerspricht die Verteidigung vehement. M., sagt Rechtsanwalt Ermel, habe B. auf dessen ausdrückliches Verlangen getötet und gegessen, seine Totenruhe sei also nicht „unbefugt“ gestört worden. M. habe höchstens Beihilfe zum Selbstmord, Sterbehilfe geleistet. Kannibalismus selbst kommt im Strafgesetzbuch nicht vor. Folgt das Gericht dieser Sicht, wäre M. nach höchstens fünf Jahren wieder frei. Das Verfahren wird am Montag fortgesetzt, mit dem Urteil Ende Januar gerechnet.
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