: Mehr Emotion, bitte
Die Welt zu Gast im Hinterhof: In Hamburg zählten die Fußballhelden Beckenbauer, Völler und Bundeswirtschaftsminister Clement schon mal den Countdown bis zur Weltmeisterschaft 2006 an
Von Markus Jox
Die elektronische Countdown-Uhr steht bei 547 Tagen, 4 Stunden, 19 Minuten und 38 Sekunden. So lange dauert es – vom vergangenen Donnerstagabend aus betrachtet – bis zum Anpfiff der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Deren Pate Franz Beckenbauer steht auf der Bühne der „Briese Filmstudios“ im Hamburger Stadtteil Winterhude, begrüßt all die „lieben Freunde“ und merkt an, dass er ja fast „a hoiber Hamburger“ sei, da er von 1980 bis 1982 für den HSV gekickt habe.
Die „Countdown“-Veranstaltung ist bereits das sechzehnte dieser Events unter dem Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“, mit denen das WM-Organisationskomitee (OK) derzeit durchs Land tourt. Auf einigen Hockern in der unwirtlichen Halle kleben Streifen mit den Namen von Promi-Pötern, die sich gleich draufsetzen werden: in Hamburg sind das Marius Müller-Westernhagen und Olli Dittrich.
Auch die HSV-Urgesteine Uwe Seeler, Horst Hrubesch und Manfred „Bananenflanke“ Kaltz sind gekommen, und der neue Trainer des HSV, Dolly Doll, sitzt mit einem Pfund Wetgel im Haar und Schwiegersohnlächeln artig neben seinem Präsidenten. Schon flimmern WM-Werbetrailer über Bildschirme und das WM-Maskottchen „Goleo“, ein Zottel-Löwe, stolpert auf die Bühne. Goleo hat den sprechenden Fußball „Pille“ dabei. Beide versuchen Witze zu reißen, stimmen „Es gibt nur ein’ Rudi Völler“ an und lachen blechern. Das hanseatische Publikum spendet sparsamsten Applaus. In Leipzig und Köln sei die Stimmung besser gewesen, sagt später ein bedröppelter Fifa-Mitarbeiter.
Lebhafter fällt der Beifall für den gewesenen Teamchef Rudi Völler aus, der wieder mit den Bildern seines Waldi-Weißbier-Scheiß-Interviews gequält und vom „Kaiser“ dafür getadelt wird, dass er der Trainerfindungskommission mit seinem Rücktritt „ein Kuckucksei ins Nest gelegt“ habe. Als Völler selbst spricht, raunt ein am Rotweinglas nippender Sportfunktionär: „Ach Rudi, nicht weinen, wir lieben Dich doch.“ Dann der Auftritt der Politik: Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement ist eigens angereist, der Freiherr Ole von Beust wird vom schnoddrigen Beckenbauer als „Bürgermeister der Freien Hanse und so weiter“ begrüßt.
Dass noch eine grauhaarige Dame auf der Bühne herumsteht, die Hamburger Bildungs- und Sportsenatorin ist und Alexandra Dinges-Dierig heißt, interessiert nicht weiter. Sie darf aber lächeln und ein „Host City Poster“ enthüllen. Das Motiv zeigt einen Fußball als aufgehende Sonne über der Alster.
Beust weiß, dass „Sport ein gutes Mittel ist, um Emotionen freizusetzen“. Clement sagt, was er immer sagt: „Wir müssen in Deutschland aus dem Jammertal herauskommen.“ Da könne Fußball „eine wirkliche Lokomotive sein.“ Die WM werde „das größte Ereignis des Jahrzehnts“, prahlt der Minister und redet mit nach unten gezogenen Mundwinkeln von Zuversicht und Optimismus. Das „Ereignis des Jahrhunderts“, korrigiert DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder, der sich zwischen Weißwein- und Zigarettengenuss ungefähr so einlässt: „Bisher wird Deutschland nur das beschte Zeugnis ausgestellt. Um was es jetzt aber geht, isch, dass mer die Emotionalität noch rüberbringt.“
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