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„Mach‘s gut, Dicker“

Das ARD dreht in Hamburg-St. Pauli eine neue Serie, die eigentlich in Altona spielt. Die ganze Hein-Hoyer-Straße und vor allem die Anwohner aus dem Haus sind involviert

aus Hamburg Eberhard Spohd

Am Ende des Tages sind alle froh, wenn viereinhalb Minuten abgedreht sind. Dann hat der Kameramann, der den ganzen Abend auf der Straße den Schwenkarm bewegt hat, genug gefroren. Die Statisten haben ihre letzten Zigaretten geraucht und im Treppenhaus zeugen die leeren Backbleche mit den spärlichen Resten, wie viel Kuchen eine Filmcrew an einem Tag verdrücken kann. Der Regisseur Thomas Jahn setzt sich noch einmal ins Motiv und lässt den Tag Revue passieren. Draußen wird abgebaut.

Für eine Fernsehserie brauchen alle einen langen Atem. Allzumal wenn sie im Hauptabendprogramm der ARD laufen soll. Da wollen die Zuschauer Qualität sehen, bekannte und beliebte Schauspieler. Und gerne auch beleibte. Da passt es doch ganz gut, dass Dieter Pfaff die Hauptrolle inne hat in der Serie, die derzeit in Hamburg in der Hein-Hoyer-Straße gedreht wird. Sie trägt den Arbeitstitel: Der Dicke. Das passt schon ziemlich gut zu dem Mann, der im dunklen Mantel zur Drehprobe erscheint.

Pfaff spielt den Anwalt Gregor

Ehrenberg, der sowohl seine Frau als auch seine florierende Anwaltspraxis aufgibt, um ganz neu anzufangen. Ohne Kompromisse will er sich um die Menschen kümmern, den Schwachen will er zu ihrem Recht verhelfen. Er besinnt sich darauf, warum und mit welchem Idealismus er damals Jura studiert hat. Darum richtet er sich in einem Weinladen in Altona eine neue Kanzlei ein.

Was geografisch nicht ganz korrekt ist, denn die Hein-Hoyer-Straße liegt mitten auf St. Pauli. Keine 500 Meter von der Davidwache entfernt wird gedreht. Die Handlung aber einfach in einen anderen Stadtteil verlegt, ganz als wolle man bei der Produktion weg vom Kiez-Klischee und vom Großstadtrevier. Die Anwohner des Hauses lächeln ein wenig darüber. Und darüber, dass im Skript zu jeder Folge immer steht: „Draußen tobt das Leben.“ In Wirklichkeit tobt da nichts, wenn nicht die Statisten die Gehsteige bevölkern.

Diese Frauen und Männer

müssen die ganze Zeit einkaufen. „Zunächst habe ich ja gedacht: Typisch Türke. Die ganze Straße ist voller Gemüseläden, und jetzt macht bei uns gegenüber noch einer auf.“ Doch Thomas* hat sich getäuscht. Spätestens als er vor die Haustür trat, fand er sich in der falschen Welt wieder. Unter der Markise werden nur Plastiktomaten, -auberginen und -äpfel feilgeboten. Allabendlich nach Drehschluss verschwindet der Kaufmann wieder, genauso wie der neue Kiosk, in dem es weder Zeitungen noch Zigaretten zu kaufen gibt. Was ein wenig ärgerlich ist für Dieter Pfaff. Katrin Pollitt, die seine Putzfrau mimt, im wirklichen Leben einen schwarzen Gürtel in Karate hat und in der Serie prompt zuschlagen darf, hat sich damit abgefunden, dass überall geraucht wird: „Wenn Dieter dabei ist, lässt sich das nicht vermeiden.“ Denn wenn er gerade nicht sprechen muss, hat Pfaff mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Marlboro Light im Mund. Aber wie gesagt: Nicht von dem neuen Kiosk an der Ecke.

Doch nicht nur auf dem Set wird geraucht. Auch das Treppenhaus ist verqualmt. Natürlich weiß man, dass man den Anwohnern viel zumutet. Schließlich dauert es ziemlich lange, bis eine Staffel des Dicken abgedreht ist. Bis in den Juni hinein wird es zu „Unannehmlichkeiten und Behinderungen“ kommen, für die sich die Crew selbstverständlich immer wieder gerne entschuldigt. „Wir sind uns natürlich über die angespannte Parksituation im Klaren“, heißt es dann in den Aushängen im Haus und auf der Straße. Und: „Zögern Sie nicht, unseren Aufnahmeleiter anzusprechen.“ Der weiß dann schon, was kommt, wenn ihn tatsächlich jemand anspricht: Da möchte mal wieder jemand Geld haben.

Denken wir an Hans.

Er wohnt im Erdgeschoss, Wand an Wand zur Kanzlei, und war von Anfang an genervt. Die Umbauarbeiten fanden direkt neben dem Kopfende seines Bettes statt. Besonders schlimm war es am Sonntagmorgen nach diesem Fest und zwei Tage vor Drehbeginn, als die Räume noch auf die Schnelle umgebaut werden mussten. Um halb neun Uhr bohrte sich etwas mit voller Wucht in seinen Gehörgang. Und er schwor: Wenn die nur einen Scheinwerfer in meinen Garten stellen, dann ist ruckzuck die Polizei da. Am Dienstag darauf stand der Scheinwerfer in seinem Garten. Und Hans war zufrieden. Für jeden Drehtag bekommt er 50 Euro. Ein lässiges Zubrot, das man gerne mitnimmt. Geschätzte 90 Mal.

Selbstverständlich bekommt auch Rudolf seinen Obolus ab. Er betreibt in der neu gebauten Kanzlei normalerweise einen Laden für Gummikleidung. In seiner ansonsten mit Lösungsmitteldünsten geschwängerten Werkstatt stehen jetzt Schreibtisch und Regale. Für neun Monate ist er ausgezogen und arbeitet in einem SM-Bordell in der Süderstraße. Seine Ware ist zum großen Teil im Keller eingelagert. Am Anfang träumte er noch davon, selbst Karriere beim Film zu machen, so aufregend fand er die Vorstellung, in einer Produktion mitwirken zu können. Doch bald hat er alle Filmleute nur noch genervt. Ständig wollte er sich einmischen, ständig kam er mit Vorschlägen, wie alles besser zu machen sei. Inzwischen taucht er nur noch selten auf, was allenthalben mit Erleichterung aufgenommen wird.

Aber was das wohl alles kostet.

Bald macht unter den Bewohnern des Hauses das Gerücht die Runde, dass das Budget bereits nach zwei Monaten um 60 Prozent überzogen worden sei. Und dass das natürlich alles von den Fernsehgebühren bezahlt wird. Thorsten und Mike, die einen Stock drüber wohnen, ist das egal. Sie haben ihre Wohnung ebenfalls für Dreharbeiten zur Verfügung gestellt. In ihrem Appartement wohnt jetzt die Nachbarin des Anwalts. Die beiden verbindet eine Hassliebe. Aber man verrät wohl nicht zu viel, wenn man erzählt, dass die Dramaturgie der Vorabendserie auch hier eingehalten wird: Die beiden werden etwas miteinander anfangen. Immerhin müssen die beiden regulären Mieter nicht komplett ausziehen. Nur wenn gedreht wird, sieht es im Flur aus, als stehe ein Umzug ins Haus. Dann stapeln sich überall Kartons, Matratzenlager werden aufgestellt, die Küche reicht kaum noch zum Kaffeekochen. Über das Schmerzensgeld wollen sie sich nicht äußern.

Das mit den 60 Prozent will natürlich sowieso niemand bestätigen. Unwahrscheinlich ist es außerdem. Zu stark achten die Controller der ARD darauf, dass alles im finanziell vorgegebenen Rahmen bleibt. Da ist es auch ein offenes Geheimnis, dass lange überlegt wurde, ob die Serie nicht komplett im Studio gedreht werden solle. Ist das teurer oder günstiger? Kommt das Flair der Großstadt – „Draußen tobt das Leben“ – beim Zuschauer dann noch an?

Einfacher wäre es gewesen, als ständig Ärger mit den Nachbarn zu haben. Außerdem müsste man dann nicht nach dem täglichen Drehschluss alles wieder abbauen. Dann werden die Scheinwerfer und das Equipment zerlegt und in die Transporter gepackt, in dem dann die ganze Nacht ein Security-Mensch sitzen und Acht geben muss. Ein weiterer Vorteil des Studios wäre es gewesen, dass nicht ständig und immer wieder der Verkehr angehalten werden müsste, um nach kurzer Zeit die Autos wieder abfließen zu lassen, wie es auf dem Dreh so schön heißt.

Dieter Pfaff spricht 12 Sekunden in die Kamera, dreht sich um und geht weg. Autos fließen ab. Sprechprobe. Ruhe bitte. Und Verkehr abfließen lassen. Der Kameramann ist noch nicht auf seinem Posten. Da kommt er. War aber noch einmal Sprechprobe. Und Abfluss. „Warum habt ihr mich denn gerufen, wenn ihr mich eh‘ nicht braucht“, schimpft der Kameramann mit deutlich holländischem Akzent. „Wir haben das noch einmal ganz langsam geübt“, erwidert Dieter Pfaff, „für die Zuschauer in den Niederlanden.“ Heiteres Gelächter. Nebenbei staucht der Dicke noch einen Assistenten zusammen, der gerade einen Kuchen vertilgt: „Iss nicht so viel, die Serie heißt Der Dicke und nicht Die Dicken.“ Erneut Gelächter. Doch dann muss alles schnell auf Anfang. Ruhe bitte. Die Szene wird erneut gedreht. Und abfließen lassen.

Ein ganz neuer Rhythmus

herrscht in der Straße. Das Licht macht die Nacht zum Tag. Der Verkehr pulsiert anstatt zu fließen, wenn nicht gerade ohnehin LKW die Durchfahrt unmöglich machen. Fußgänger werden angehalten und dann zum Weitergehen aufgefordert. Alles spielt sich im Minutentakt ab. Um dann wieder langsam, trage und zäh dahinzufließen. Irgendwer hat die falschen Kopfhörer mitgebracht. Irgendjemand muss schnell zu Saturn fahren und die richtigen besorgen. In der Zeit heißt es warten. Der Regisseur Thomas Jahn erinnert sich wieder daran, dass er noch Weihnachtsgeschenke besorgen muss. Immerhin weiß er schon, was es geben soll: Seine Tochter bekommt ein Schlagzeug. Und seine Frau ... Aber schon geht es weiter.

Noch bis in den Juni hinein müssen die Fernsehleute, die Hausbewohner und die Hein-Hoyer-Straße zusammenarbeiten. Und wehe, die Serie ist ein Erfolg: Dann folgt die zweite Staffel. Und die dritte Staffel. Und dann hat man sich ganz langsam aneinander gewöhnt. Die meisten freuen sich jetzt schon darauf, das eigene Haus im Fernsehen zu sehen. Und sie rufen Dieter Pfaff ganz leise den Gruß zu, den sie hier auf St. Pauli oft genug auf der Straße hören: „Mach‘s gut, Dicker!“

* Bewohnernamen geändert

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