: Unruhestifter und Seelsorger
War 2004 ein unruhiges Jahr oder eher ein friedliches? Wer machte die Berliner verrückt, wer sprach ihnen Mut zu? Und wie sicher ist es unter dem Kopftuch? Dies und vieles mehr im Jahresrückblick der taz-berlin
von UWE RADA
2003 war, wer würde da widersprechen, ein unruhiges Jahr. Für die Vereinten Nationen, den Irak und natürlich auch unser Berlin. Für Unruhe sorgte zunächst der amerikanische Präsident, der den Vereinten Nationen die Pistole auf die Brust setzte. Auch den 500.000 Demonstranten am 15. Februar in der Hauptstadt von „Old Europe“ gelang es nicht, George W. Bush zu beruhigen. Der ließ seine Jungs am 18. März in den Irak, um für Ruhe zu sorgen. Jetzt sind die Soldaten selbst unruhig, wie auch der Rest der Welt.
Einer hatte es schon vorher gewusst. Dustin Hoffman hat auf der „Cinema for peace“-Gala während der Filmfestspiele dem amerikanischen Präsidenten die Leviten gelesen. „Ich bin nicht antiamerikanisch, aber ich bin gegen die Ansichten der jetzigen amerikanischen Regierung“, rief Hoffman unter dem frenetischem Beifall des Publikums. Ganz wohl war aber auch ihm nicht bei diese Anklage. Es ruckte und zuckte im Hoffman-Gesicht, als hätte der Anti-Vietnam-Veteran mit seinem Präsidenten noch eine Rechnung zu begleichen.
Ganz anders dagegen der andere Anti-Bush-Amerikaner. Während Michael Moore in Hollywood noch für Aufregung sorgte, war er in Berlin angetreten, das deutsche, also sein Publikum zu beruhigen. Keine „Stupid White Men“ lebten hier, sondern tolle Leute.
Das fanden auch viele Amerikaner, die man nicht extra nach Berlin einfliegen musste, sondern das ganze Jahr hier leben. Sie haben sich zu den „Americans for peace“ zusammengeschlossen und vor der US-Botschaft nahe den Linden mahngewacht. Friedliches Deutschland, unfriedliches Amerika, so war 2004 auch in Berlin. Und Michael Moore hat sogar bewiesen, dass sich Frieden richtig lohnt.
Versicherungsvertreter haben in stürmischen Zeiten Hochkonjunktur. Die Versicherungsvertreter von öffentlichen Einrichtungen sind die Geheimdienstmitarbeiter, oft auch Schlapphüte genannt. Sie versichern alles, ohne dabei allzu viele Worte zu verlieren. Der beruhigendste aller Schlapphüte in Deutschland ist eine Schlapphüterin und heißt Claudia Schmid. Selbst die Nachricht vom Oktober, dass in Berlin 30.500 radikale Muslime leben, hat aus dem Mund der Berliner Verfassungsschutzchefin noch etwas Tröstendes. Es hätten ja auch 30.600 sein können. Mit Claudia Schmid ist die Hauptstadt so sicher wie nie. Und wenn doch was passiert, wird beim nächsten Mal eben die Versicherungsprämie erhöht.
Eine höhere Versicherung hätte auch der Stiftung für das Holocaust-Mahnmal nicht geschadet. Vor allem nicht deren Mitgründerin und „Mutter aller Opfer“ (TIP), Lea Rosh. Als bekannt wurde, dass im Holocaust-Mahnmal nicht nur Schuld und Sühne drin ist, sondern auch die durch ihre Geschichte belastete Firma Degussa, packte Rosh erst mal zwei Wochen den Deckel auf die ganze Sache. Als das nicht half, schob sie ihre Kontrahentin Sibylle Quack in die Schusslinie und sagte, die sei schuld. Als die Stiftungskuratoren am Ende meinten, Degussa darf bleiben, gab Rosh noch immer keine Ruhe. Nicht sie, sondern Sibylle Quack musste den Hut nehmen. Lea Rosh darf dagegen das Ausland noch immer beruhigen. Solange es im Land der Täter Opfer gibt wie sie, muss man sich um den Standort Deutschland nicht fürchten.
Am unruhigen Jahr 2003 hat in der Hauptstadt der rot-rote Senat keinen unwesentlichen Anteil. Wäre die Truppe um Klassensprecher Wowereit eine Schulklasse, müsste man folgende Kopfnoten für Betragen vergeben: Eine Fünf für den Zappelphilipp Peter Strieder, eine Vier für den vorlauten Thilo Sarrazin, eine Drei für Thomas Flierl, von dem man nicht recht weiß, ob er nun Musterschüler ist oder etwas aufsässig, eine Zwei für Heidi Knake-Werner, die fast keine Widerworte mehr gibt, und eine Eins für den Klassensprecher, der seine Contenance selbst im größten Kuddelmuddel nicht verliert. Als Basta-Regierender hat Wowreit sogar Ver.di-Landeschefin Susanne Stumpenhusen zum Schweigen gebracht. Wenn er im nächsten Jahr auch noch lernt, die Sätze grammatikalisch so zu Ende zu bringen, wie er sie beginnt, ist ihm eine Auszeichnung als Alfred Biolek der Berliner Lokalpolitik sicher.
Noch ruhiger als Klaus Wowereit agiert eigentlich nur noch Harald Juhnke, und das obwohl sich Noch-Frau und Schon-Schriftstellerin Susanne alle Mühe gibt, schmutzige Wäsche zu waschen. Harald und seine Hausmacht ficht das nicht an, er hat sein bisschen Frieden im Pflegeheim gefunden. Erstmals hat er dort sogar seinen Geburtstag gefeiert. Ohne Kameras übrigens, nicht mal Bild war dabei.
Gafron! Wo war letztes Jahr nur Georg Gafron? Nur einmal, in der Feindestaz, hat der Ex-Chef von BZ, TV.Berlin und Radio 100,6 seinen Sermon ergossen. Wir sind ernsthaft in Sorge. Berlin ohne Gafron, das wäre wie Toms Bar ohne Darkroom.
Nun aber zu jenen Subjekten, die in diesem Jahr wirklich für Aufregung sorgten. Allen voran natürlich die Studierenden. Sie demonstrierten, streikten, seminarten, strippten, was das Zeug hielt und besetzten am Ende sogar die taz. Nicht jeder der Kollegen agierte da mit ruhiger Hand, einigen wäre selbige sogar fast ausgerutscht. Aber alles halb so schlimm. Die Studierenden bekamen wie die tazler, was sie wollten. Die einen Platz für ihre Bleiwüsten, die andern kostenlose Werbung. Solcherlei Unruhe für einen guten Zweck schafft Vertrauen – bis zur nächsten Besetzung.
Oder hätten wir ihn noch vor den Studierenden nennen sollen. Aber das wäre für Claus Peymann wohl zu viel der Ehre. Einen Krakeel hat der Mann gemacht, dass selbst die Suffies vom Helmholtzplatz neidisch wären, wenn sie wüssten, wer Peymann ist. Aber vielleicht hat er bei ihnen ja mal vorbeigeschaut. Eine bessere Unterstützung für die nächste Ichgehewegvonberlindrohung könnte es ja gar nicht geben. Peymann kriegt der Hals nicht voll, und der Helmichor ruft nach Schnapps. Vorhang!
Zu den Unruhestiftern des vergangenen Jahres gehörten auch Fritz J. Raddatz, der sogar einen Roman gleichen Namens verfasst hat, der FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Lindner, von dem man nicht weiß, ob er schon einmal einen Roman gelesen hat, und Gotthold Hasenbüttel, dessen Leben als moderner Martin Luther dereinst wohl einen Romanstoff abgeben wird. Vorerst aber lud der Katholik Hasenbüttel beim ökumenischen Kirchentag seine evangelischen Glaubensbrüder nur zum Abendmal ein. Zum großen Showdown mit des Papstes Geheimdienstchef Kardinal Ratzinger kommt es erst im nächsten Jahr. Dann wird sich auch entscheiden, ob aus dem Leben des Gottholf Hasenbüttl sogar ein Kinofilm gedreht wird. Der Drehort steht schon fest: das Kreuzberger Restaurant Abendmahl, wo man sich über den ganzen Rummel göttlich gefreut hat.
Womit nur nun wirklich beim Thema Religionsfreiheit wären, das in Berlin seit dem Urteil des Verfassungsgerichts vor allen das Thema Kopftuchfreiheit war. Oder Kopftuchverbot. So wie man einst unter dem Pflaster den Strand wähnte, scheinen nun unter dem muslimischen Kopftuch Allahgranaten verborgen. Ein Beitrag zur Sicherheit ist das nicht, wenn man alle zehn Meter auf dem Bürgersteig in Deckung gehen muss. Aber bald soll damit ja Schluss sein, zumindest bei den Kopftuchlehrerinnen. Nur, wie erkennt man unter kopftuchlosem Haupthaar die geistigen Allahgranaten? Aber wo die Gefahr droht, wächst bekanntlich auch das Rettende. In den Labors von Bildungssenator Klaus Böger wird bereits an der Entwicklung eines Dschihaddetektors gearbeitet. Das Prinzip ist ganz einfach. Ein paar Dioden unter den Helm, das ganze aufgesetzt und auf den Bildschirm ein Arafat in Nahaufnahme projiziert. Gerät das Hirn des Probanden in freudige Erregung, muss er aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. Schläft der Proband dagegen ein, ist er als Lehrer voll diensttauglich.
Wobei wir bei den Ruhestiftern wären. Neben den Lehrern waren das Gina Wild (uäääh!), Rolf Seutemann, der neue Chef des Landesarbeitsamts, der damit angetreten ist, den Aufschwung zu vesprechen, der Vorstand der Bankgesellschaft Berlin, und die Flughafenholding, die mangels Großflughafen den Bewohnern von Schönefeld, Bonsdorf und Umgebung auch dieses Jahr eine gute Nacht wünscht.
Der größte Ruhestifter des vergangenen Jahres aber war Joachim Zeller. Nur ihm ist es zu verdanken, dass aus dem Lausbubenhaufen namens CDU wieder eine Partei wurde, in der man am besten das Maul hält. Selbst Teppichhändler Frank Steffel hat begriffen, was ja bekanntlich etwas heißen mag. Bei so viel Beruhigungspotenzial muss sich Zeller nur fragen, ob das reicht, um demnächst gegen Klaus Wowereit anzutreten. Die Gernegroße haben schon die Hand gestreckt, allen voran Friedrich Merz.
Ein unruhiges Jahr war 2004 auch, was die Berliner Society betrifft. Zwar ist das Ehepaar Bohrer-Fielding inzwischen nach Potsdam gezogen, rund um die Schweizer Botschaft und den Reichstag ist aber noch lange kein Frieden eingezogen. Schuld sind die Freizeitkicker, die im vergangene Jahr partout nicht ihre Sachen packen wollte. Selbst der Grünflächenamtsleiter von Mitte, Harald Büttner, musste da in die Bütt. Aber auch Büttner und einige Hundertschaften Polizei konnten nicht verhindern, dass „dem deutschen Volke“ weiterhin das Thema Fußball bleibt. Auf der Freifläche vor dem Parlamentsgebäude will ein zu diesem Zweck ins Leben gerufener Verein bis zur Fußball-WM 2006 in Deutschland ein „Nationalfeld“ aus Rasenquadraten mit 1,22 Metern Seitenlänge von Fußballplätzen aus ganz Deutschland anlegen.
Polizeieinsätze gab es aber nicht nur vor dem Reichstag, sondern auch in Friedrichshain. Ins Guinnessbuch der Rekorde ging dabei ein über Wochen dauernden Hubschraubereinsatz der Polizei, der nicht nur die Bewohner um den Schlaf brachte, sondern auch ehemalige Hausbesetzer um den Verstand. Die organisieren seitdem keine Randale mehr, sondern nur noch Abwehrkämpfe auf so genannten „Anti-Hubschrauber-Demonstrationen“.
Das Wunderlichste aber geschah im Verborgenen. Da beschließt der Bundestag, den Palast der Republik abzureißen, und keiner hebt die Stimme zur Kritik, keiner kettet sich ans Baugerüst, keine Selbstverbrennung, nichts. Vielleicht liegt es ja daran, dass die gute alte DDR seit dem Seelsorgerdrama „Good Bye Lenin“ keinen Palast mehr braucht, sondern auch in eine Zweiraumwohnung passt. Vielleicht war der Sommer aber auch einfach zu heiß für einen „heißen Herbst“.
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