: Die halbherzige Integration der Lernschwächeren
Seit der Veröffentlichung der zweiten Pisa-Studie fordern Politiker wieder eine Schule für alle. Die Gesamtschule gilt als Zwischenlösung. Hier schaffen viele Spätzünder noch das Abitur. Doch sie hat ein schlechtes Image bei den Eltern. Und auch sie trennt ihre Schüler meist nach Leistungsniveau
„Kinder können hier Karriere machen“, sagt Hans-Joachim Litfin, Mittelstufenleiter der Walter-Gropius-Schule in Neukölln, einer Gesamtschule mit integrierter Grundschule und gymnasialer Oberstufe. Karriere machen deshalb, weil hier Jugendliche einen Hauptschulabschluss schaffen, den sie sonst nie bekommen hätten, und weil Abiturienten die Schule verlassen, die den Sprung aufs Gymnasium vielleicht nie geschafft hätten.
Das dreigliedrige Schulsystem ist umstritten, nicht erst seit Pisa. Und die Gesamtschule gilt als Zwischenlösung, nicht unbedingt als die beste. Die Walter-Gropius-Schule ist eine von 65 Gesamtschulen in Berlin. Den wabenförmigen Schulbau besuchen rund 1.200 Schüler.
Im Prinzip lernen alle zusammen, mindestens bis zur neunten Klasse. Doch alle halbe Jahre werden die Schüler von den Lehrern zwei unterschiedlichen Niveaus „zugewiesen“. Dieser leistungsdifferenzierte Unterricht findet in Deutsch, Englisch und Mathematik statt. Gemeinschaftskunde, eine Mischung aus Geschichte, Sozial- und Erdkunde, haben alle gemeinsam. Dazu kommen noch Wahlpflichtfächer. An der Gropius-Schule werden zum Beispiel Latein, Französisch, Arbeitslehre, Informatik, darstellendes Spiel oder Politik/Geschichte angeboten.
In 90-Minuten-Blöcken läuft der Unterricht bis 16 Uhr, dazwischen gibt es Pausen und Schülerarbeitsstunden, in denen nachgearbeitet, wiederholt und gelernt wird. „Das hat Vorteile“, sagt Inken Kretschmer, stellvertretende Schulleiterin, „ist aber auch nicht die Lösung aller Probleme. Hausaufgaben gibt es zum Beispiel trotzdem.“ Auch im Lateinunterricht – Vokabeln lernen für den nächsten Test. Lehrerin Antje Heckert wiederholt mit den 15 Schülern Grammatik. Der Unterricht „läuft mal mehr, mal weniger gut“, sagt Heckert trocken. Man merkt, dass ihr die „weniger guten“ Stunden an den Nerven zerren. „An der Gesamtschule können wir schwächere Schüler besser betreuen“, glaubt Heckert. „Fördern“ mag sie nicht sagen angesichts der teils viel zu großen Kurse. 32 Schüler dürfen in den Klassen sitzen und tun es auch meist.
Im Deutschkurs der leistungsschwächeren Schüler wird laut gelesen. „Viele haben ganz starke Probleme mit der Sprache“, erklärt Lehrerin Jutta Löwener. Nicht nur weil viele Schüler nichtdeutscher Herkunft sind und schlecht Deutsch sprechen. Auch die deutschen Kinder haben Probleme, Texte zu verstehen und vollständige Sätze zu formulieren. „Wenn früher von einer Klasse vier Schüler keine Lehrstelle bekommen haben, sind es heute vier, die eine bekommen“, sagt Hans-Joachim Litfin bitter.
Dennoch ist für alle Gropius-Schüler immer ein Wechsel zwischen den Schulformen möglich – zumindest theoretisch. „Viele bekommen ja in der siebten, achten Klasse oder noch später einen Leistungsschub, da werden sie plötzlich viel besser“, meint Marianne Richter, die hier Arbeitslehre unterrichtet. Sind die Kinder vorher durch das dreigliedrige Schulsystem schon „aussortiert“ worden, schaffen sie es selten auf eine höhere Schule. Mohamed Al-Zein, der im Arbeitslehreunterricht gerade an einem Kerzenständer aus Metall feilt, sagt: „Ich war voll schlecht eigentlich. Dann haben die Lehrer mit mir geredet, dass ich mich anstrengen soll. Jetzt wird es besser.“ Der 14-Jährige will Abitur zu machen.
„Die Gesamtschulen haben viele gute Ansätze“, sagt Grietje Bettin, bildungspolitische Sprecherin der Grünen. „Ganztagsschule und ein Unterricht, der die Kinder weniger stark auf ihr Leistungsniveau reduziert, sind der richtige Weg.“
Auch Lothar Sack glaubt, dass die Gesamtschule dem Modell „einer Schule für alle“ am nächsten kommt. „Wir könnten hier einen guten Beitrag zur Reform unseres Schulsystems leisten.“ Allerdings müsste sich auch die Gesamtschule verändern. Lothar Sack weiß, wovon er spricht. Seit 1992 ist er Schulleiter der Fritz-Karsen-Schule in Britz – der ältesten staatlichen Gesamtschule Deutschlands. „Eine Schule für alle“ ist längst das Modell der Fritz-Karsen-Schule. Hier werden alle Kinder unabhängig vom Leistungsniveau gemeinsam unterrichtet. Sitzenbleiben gibt es nicht. Erst nach der neunten Klasse können die Leistungsstärkeren in die gymnasiale Oberstufe wechseln.
Von diesem Prinzip ist das Gros der Gesamtschulen noch weit entfernt. „Die Gesamtschule, wie sie derzeit praktiziert wird, lehnen wir deshalb ab“, sagt die Grünen-Politikerin Bettin. „Im Prinzip wird hier das dreigliedrige Schulsystem unter einem Dach fortgesetzt. Statt frühzeitig auszusortieren, müssen wir künftig alle Kinder fördern.“ Spätentwickler sollen wie Schnellstarter einen möglichst hohen Abschluss erreichen.
Doch bei den Eltern mit leistungsstarken Kindern haben Gesamtschulen nicht den besten Ruf. Die Ansicht, Abitur mache man am besten am Gymnasium, ist weit verbreitet. „Es glauben doch viele, dass hier nur lernschwache Kinder oder Schüler unterrichtet werden, deren Eltern sie nicht dem Leistungsdruck auf einem Gymnasium aussetzen wollen“, weiß Schulleiter Sack. Um den Weg frei zu machen für eine „Schule für alle“, müsse man diesen Vorurteilen entgegentreten.
Dabei wäre schon ein Blick auf die Statistik hilfreich, meint Hans-Joachim Litfin. Rund ein Drittel der Schüler verlässt die Walter-Gropius-Schule mit Abitur. „Wir können besser betreuen als an jedem Gymnasium“, sagt Liftin. Zudem haben Gesamtschüler nicht nur unterschiedliche Leistungsniveaus, sie kommen auch aus unterschiedlichen sozialen Schichten. „Das sorgt für eine hohe Akzeptanz untereinander“, so Litfin. Probleme mit Gewalt gebe es deshalb kaum. Gleichzeitig können die Leistungsstärkeren Schwächere unterstützen, ihnen positive Vorbilder sein. „Das wird immer schwieriger, weil die leistungsschwächeren Schüler mehr werden“, gibt Litfin zu. „Es funktioniert aber besser als eine Negativauslese.“
Für Lothar Sack krankt das deutsche Schulsystem genau daran, dass die Kinder streng nach Leistung bewertet werden: „Solange Schüler abgestuft werden können und Sitzenbleiben als sinnvoll angesehen wird, müssen wir uns über die Haltung unsere Gesellschaft zur Bildung ernsthaft Gedanken machen.“ Die nach Begabung gegliederte Schulstruktur dürfe kein Tabu mehr sein. „Eine Reform muss in den Köpfen der Lehrer, Eltern und Schüler beginnen. Es nützt nichts, nur die Schulstruktur zu ändern“, sagt Sack. PHILIPP DUDEKJULIANE GRINGER
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