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Im Altersheim von Amerika

Das größte Casino der Welt heißt Foxwoods und liegt in Connecticut. Der Greyhound von New York hin und zurück kostet 26 Dollar. 20 Dollar kriegt man im Casino wieder: als Spielgeld

AUS LEDYARD, CONNECTICUT, HENNING KOBER

In New York zaubert die Sonne. Ihre Strahlen spiegeln das silberne Schild an einer Hochhausfassade gegenüber zu einem grellen Lichtfleck. „Unser Glücksstern“, sagt Alberto, mein Begleiter für diesen Trip. Wir stehen an der Ecke Achte Avenue, 42ste Straße vor der Port Authority, dem zentralen Busbahnhof Manhattans, rauchen und schauen Menschen, die arbeiten. Ein Asiat trägt schwer an seiner Tafel, die für billige Anzüge eine Ecke weiter wirbt. Illegale Taxifahrer drängen auf billige Fahrten. Einzelne Jungen warten gelangweilt gegen die Brüstung gelehnt. Es ist ein unauffälliger Mittwochmittag.

„Unauffällige Tage sind gut für das Glück“, meint Alberto und hebt Toto, seinen Chihuahua, für ein kleines Geschäft aus der falschen Prada-Tasche. Dann gehen wir hinunter in die Katakomben des gewaltigen Betonbaus. In den rot-orange gefliesten Fluren warten Menschen, die sich keinen Flug leisten können, alle Hautfarben, jedes Alter. Wir sind die Einzigen ohne schweres Gepäck. An Gate 81 steht unser Greyhound. Nach Foxwood, dreieinhalb Stunden nördlich, hin und zurück für 26 Dollar, das ist der Deal. 20 Dollar gibt es im Casino wieder, als Spielgeld.

Der Bus ruckt an. „Alles oder nichts“, sagt Alberto und bekreuzigt sich. Er ist 24 und mein Nachbar in Williamsburg. Ein talentierter Modedesigner, puerto-ricanischer Abstammung. Er will das große Spiel vom letzten Sommer wiederholen. Da hat er in einer Nacht aus Kleingeld leicht 1.500 Dollar gemacht – und in ein paar andere Nächte investiert. Jetzt ist das Startkapital 200 Dollar. Daraus soll, muss mindestens das Zwanzigfache für den Mietrückstand werden. „Meine letzte Chance“, sagt er, sonst „werde ich ein schicker Straßenstreuner“.

Büffel ist Glücksspiel

Unser Busfahrer beschleunigt jetzt auf den Interstate 278, hoch gebaut auf Pfeiler. Die in den fast farblosen Himmel startenden Flugzeuge von La Guardia scheinen auf gleicher Höhe. Die Route führt raus aus New York, rein nach Amerika.

Wenn etwas in diesem Land tatsächlich Tradition hat, dann das Spiel mit dem Glück. Lotterien haben den Revolutionskrieg, die Kolonisierung des Westens, sogar die Gründung von Harvard und Princeton finanziert. Die älteste Tradition aber gehört den Indianern. Mit einem Prozent Bevölkerungsanteil sind die Native Americans heute die kleinste ethnische Gruppe in den USA. Die durchschnittliche Lebenserwartung in einem Indianerreservat beträgt 47 Jahre, im Rest des Landes 78 Jahre. Privilegierten Stämmen ist der Verkauf von steuerfreie Zigaretten und seit Ende der Achtzigerjahre der Casino-Betrieb erlaubt. Auf der Homepage der „Indian Gaming Association“ steht: „Glücksspiel hat uns die Büffel ersetzt.“

Alberto schluckt eine Adderall, die gegenwärtig beliebteste Amphetamin-Pille aus der Apotheke. Er hat zwei Nächte nicht geschlafen, um die Deadline für ein Kostüm zu halten. Speed in allen Formen ist nach wie vor das wichtigste Elixier amerikanischer Kultur. Auf den Spuren neben uns fahren zwei SUV gegeneinander. Den Range Rover mit „Beschütze Amerika, besiege Bush“-Aufkleber fährt eine Frau, die aussieht wie Catherine Zeta-Jones. Am Steuer des Mercury Mountaineer mit „Bush – Cheney 04“-Kleber sitzt ein Mann mit Mütze. Diesen Spurt gewinnt die Frau.

Das Land der Mashantucket Pequot ist ein schönes Stück Natur, dichter Nadelwald. Bei unserer Ankunft in der Dämmerung liegt jetzt rosa Dunst über den Gipfeln. Hoch ragt der zwanzigstockige Hotelturm des Casino in den Himmel, Flutlichter tanzen um ihn. „Das Spiel beginnt“, sagt Alberto und bekreuzigt sich. Er hat feuchte Hände.

Die Lobby ist überfüllt. Sie kommen aus Boston, New Haven, Providence, An- und Abfahrt im Minutentakt. Foxwoods Resort Casino in Ledyard, Connecticut, nennt sich selbst „das größte Casino der Welt“ und hat selbstverständlich 365 Tage 24 Stunden geöffnet. Der Altersdurchschnitt des Publikums knackt die 60 locker, gesund sieht kaum einer aus. Wir sind hier im amerikanischen Altersheim. Da sind übergewichtige, humpelnde Männer. Frauen auf Gehhilfen gebeugt, Zigarette im Mundwinkel. Großes Rollstuhl-Kreuzen. Sanitäter tragen einen Mann auf einer Trage. Es wird massiv geraucht. Wir fahren die Rolltreppe hinauf, vorbei an einem künstlichen Regenwald. Monitore flimmern „Win-TV“, den hauseigenen Sender. Links der größte Bingo-Saal der Welt, rechts zum Automatenspiel.

Alberto bleibt gleich da, „zum Warmwerden“. Ich laufe weiter, es ist endlos. 7.400 Slotmaschinen verteilen sich über sechs Hallen, in jede könnte man locker eine Boeing 737 parken. Ein Kino für Pferdewetten. Roulette, Poker, Keno, Baccara, Restaurants, Bars, ein Hard Rock Café. Die Mall. Es gibt keinen Krawattenzwang, der Jogginganzug ist die meist getragene Kleidung. Kinder töten ihre Zeit in der Videospielhalle. Vor dem „Fox Theater“ wirbt ein Plakat für den Auftritt der Chippendales. Im Februar kommt Joe Cocker.

Was 1986 finanziert durch einen Kredit der Arab American Bank mit einem Raum für das Bingo-Spiel begann, ist inzwischen ein 437.000 Quadratmeter großer Supertanker aus einem Guss. Pastellrosa, satingelb und nussbaumbraun die Farbtöne. Ein perfekt abgestimmter Dimmer für die Sinne. Überall singt Bing Crosby „White Christmas“. Es riecht intensiv nach Klebstoff. In der Pequot Times ein Bild von Emma Tillman. Ihren 111. Geburtstag feiert sie an einem Spielautomaten.

Für 14 Dollar kaufe ich im Restaurant „Festival“ einen Gutschein fürs Büfett. „Iss so viel du kannst“, wirbt ein Plakat. Sie nehmen es wörtlich, Essen ist Fressen. Am Nachbartisch nagen Rentner mit fettigen Fingern an Maiskolben. Ein Mädchen, acht, neun Jahre alt im rosa Jogginganzug, malt eine Fratze in die braune Creme auf ihrem Teller. Sie hat ein Dreifachkinn, der Bauch ist dick wie der einer Schwangeren. Ihre Mutter stellt ihr ein neues Stück Torte vors Gesicht. Dean Martin singt „Baby, It’s Cold Outside“.

Hinter einer Palme aus Plastik ein Fenster nach draußen. Vollmond leuchtet auf den Wald. Mashantucket heißt „sehr waldiges Land“. Seit tausenden von Jahren leben die Pequot hier. 1975 waren es noch genau 55, inzwischen sind es wieder über 300. Foxwood beschäftigt 11.000 Menschen, verdient jeden Monat 70 Millionen Dollar. Der Effekt: Den Nachfahren der alles beraubten Ureinwohner steigert sich die Lebensqualität. Und die Nachfahren der Eroberer verlieren ihre Alterssicherung. Vielleicht ist das auf der großen Rechnung gerecht. Schön ist es nicht.

Casinos sind für Native Americans die einzig erlaubte Chance auf Wohlstand. Den Anfang machte 1988 mit dem „Indian Gaming Regulatory“-Gesetz der damalige Präsident Ronald Reagan. Seitdem ist das Spiel mit dem Glück zum Gorilla amerikanischer Dekadenz geworden. Ende der Achtzigerjahre waren Casino nur in Nevada und New Jersey erlaubt, heute stehen sie in allen Staaten außer Hawaii und Utah. Ein Drittel aller US-Amerikaner, mehr als 100 Millionen Menschen, spielen. Sie setzen jedes Jahr über 400 Milliarden Dollar, davon gehen etwa zehn Prozent verloren. Das ist mehr, als in den USA für Bücher, Tonträger, Kino und Vergnügungsparks zusammen ausgegeben wird.

Das Spinnennetz

Nach zwei Stunden in dieser manischen Maschine ist mir langweilig. Alberto ist verschollen, geht nicht ans Telefon. Meine Hände finden den Bus-Gutschein für 20 Dollar. Ich tausche an der Kasse, sitze auf einem Sessel aus falschem Leder und füttere die erste 25-Cent-Münze in den Automaten „Banana Split“. Die Räder drehen sich. Stopp-Taste. Verloren. Eine Viertelminute ist verstrichen. Weiter. 50 Cent gewonnen. Banane in der Mitte und gleiche Symbole rechts und links sind gut.

Neben mir an „High Voltage“ sitzt eine reife Lady, Goldschmuck am Körper. Sie raucht mit tiefen Zügen. Ein Kabel spannt sich von ihrem Gürtel zur Maschine, in der die Wampum-Karte (Foxwoods Vielspielerclub) steckt. Ihr Gesicht ist starr. Auf Augen und Ohren regnet konstant eine schaurige Speed-Variante: schrill blinkende Farben, Automaten-Sound, das Geklimper von ausgezahlten Münzen. Frank Sinatra singt „Jingle Bells“. Dann klimpern in den Schacht meines Automaten Silbermünzen, 1.000 Stück. Volltreffer. Es hört nicht auf, Berge wachsen und rutschen ab. Es ist ein süßer Sound. 250 geschenkte Dollar liegen da und fixen mich an.

Später: Schließe ich die Augen, zappeln bunte Blitze. Morrisseys Musik aus dem Kopfhörer wirkt nur schwach gegen das Klingeln zwischen meinen Ohren. Ich sitze im Greyhound zurück nach New York, meine Sinne noch betrunken.

Natürlich ist der Gewinn weg, das ist geschenkt. Beunruhigender ist zu wissen: In mir ist jetzt dieser Virus. Am Morgen hielt ich Spielen noch für die uninteressanteste aller Süchte. Mein Telefon meldet sich. Eine SMS von Alberto, er schreibt: „Glückssträhne, bin jetzt in Mohegan Sun“. Das nächste Casino, ein paar Kilometer entfernt. Dicht ist das Spinnennetz.

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