: Korrektes Protestknutschen
HOMOS Die vermeintlich träge gewordene Community kriegt neuen Schwung. Selbst organisiert protestiert sie gegen homophobe Übergriffe
BEWEGUNGSFORSCHER ROLAND ROTH
VON PAUL WRUSCH
Wahnsinn, was für eine Lawine wir losgetreten haben“, sagt Isan Oral. Zusammen mit Sebastian Goldhagen hatte er die Idee zu einer der größten Aktionen gegen Homophobie in der Hauptstadt in den letzten Jahren. Tausend Schwule, Lesben, Heteros und Transsexuelle versammelten sich letzte Woche in der Maaßenstraße in Schöneberg – und knutschten.
Mit dem Kiss-in in diesem Kiez, in dem Homos und Heteros, Bürgerliche und Unangepasste, Migranten und Deutsche miteinander leben, protestieren sie gegen einen homophoben Eisdielenwirt, der mehrfach schwule und lesbische Paare vertrieben hat und auch handgreiflich geworden sein soll.
Solche Übergriffe rufen eine junge Homobewegung auf den Plan, die unabhängig von den alteingesessenen Institutionen Widerstand organisiert. Nicht die schwule Opferberatung Maneo, der Lesben- und Schwulenverband oder die Grünen, sondern die zwei jungen Berliner Schwulen verbreiteten den Aufruf auf der öffentlichen Internetplattform Facebook – nach drei Tagen gab es 400 Zusagen.
Das erregte Aufmerksamkeit auch außerhalb der eigenen Klientel. Nicht nur im Schwulenportal Gayromeo, wo die Szene unter sich ist und ebenfalls auf das Kiss-in verwiesen wurde. Andere Seiten setzten Links auf die Aktion, die Medien berichteten.
„Jede Generation muss neue Formen des Protests und der Mobilisierung für sich entwickeln, sich immer neu erfinden“, sagt der Hamburger Bewegungsforscher Roland Roth. Während Roth als Jugendlicher noch Flugblätter kopiert hat, setzt man heute eben auf das Internet.
Kein Grund zum Feiern
Mit Erfolg. „So viele Teilnehmer in so kurzer Zeit, das ist selten“, sagt Roth. Zweierlei müsse zusammenkommen, um für solche Aktionen erfolgreich zu mobilisieren: eine handlungsfähige Szene und eine Form, die zu ihr passt. Auch der sonnige Samstagmittag hat nicht geschadet.
Dazu kommt die gemeinsame Erfahrung von vielen jugendlichen Schwulen und Lesben, die sich heute outen: Sie finden zwar Strukturen vor, die von früheren Generationen hart errungen werden mussten, aber auch wenn es keinen Paragrafen 175 mehr zu bekämpfen gilt, ist nicht zu übersehen, dass Homosexuelle im Alltag zunehmend Anfeindungen ausgesetzt sind.
Es ist noch lange nicht selbstverständlich, dass sich zwei Männer auf der Straße küssen. Die Berliner Polizei hat im vergangenen Jahr 67 Übergriffe auf Homosexuelle erfasst, ein Drittel mehr als 2007. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen.
Auch daran soll mit dem Internationalen Tag gegen Homophobie diesen Sonntag erinnert werden. Seit 19 Jahren gelten Schwule und Lesben nicht mehr als krank – am 17. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität von der Liste der psychischen Krankheiten. Ein Grund, zu feiern? Kaum.
Nur jeder zehnte Übergriff wird der Polizei gemeldet, ergab eine Maneo-Studie. Dem schwulen Antigewaltprojekt wurden in der Hauptstadt letztes Jahr über 300 Fälle gemeldet. Die Zahlen mobilisieren die Szene. „Gewalt gegen Homosexuelle ist stärker ins öffentliche Bewusstsein gedrungen“, sagt Maria Tischbier, die bei der Berliner Polizei für homophob motivierte Fälle zuständig ist. Emanzipation sei die beste Prävention. Beim Kiss-in hat die Szene gezeigt, dass sie nicht nur feiern kann.
Chance für die Bewegung
Roland Roth sieht eine Chance für die gesamte Protestbewegung. „Gruppen können erreicht werden, die Aufrufen von Parteien oder Vereinen sonst niemals folgen würden“, sagt er. Würden etwa die Grünen heute zur Demo aufrufen, wäre das für viele ein Grund, nicht zu kommen. Beim Kiss-in hatte sich die Berliner Grünen-Fraktion als Trittbrettfahrer an die Onlinemobilisierung gehängt.
Und Protest ist weiter nötig: Einen Tag nach dem Kiss-in wurde ein schwules Paar in Schöneberg von vier Jugendlichen beleidigt und verprügelt – in der Stadt, in der schätzungsweise jeder zehnte Einwohner schwul, lesbisch oder transsexuell ist.
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