: Der Professor, das Gericht und Ruandas Tote
UN-Tribunal, das den Völkermord an Ruandas Tutsi aufarbeitet, gerät unter den Druck von Sympathisanten der früheren Hutu-Machthaber: Auch die heutige Tutsi-Regierung soll auf die Anklagebank. An vorderster Front: ein Belgier
BRÜSSEL taz ■ Ein belgischer Professor, der sich mit einem UN-Gericht streitet – das ist keine Nachricht. Aber die Kontroverse, die Professor Filip Reyntjens letzte Woche auslöste, hat grundsätzliche Fragen zur Zukunft des UN-Tribunals aufgeworfen, das den Genozid an bis zu einer Million Menschen – zumeist Tutsi – in Ruanda 1994 untersucht.
Reyntjens, einer der international führenden Spezialisten für das Afrika der Großen Seen, kündigte am 11. Januar schriftlich seine Zusammenarbeit mit dem Tribunal auf. Der Grund: Kein Mitglied der heute in Ruanda regierenden RPF (Ruandische Patriotische Front) – der einstigen Tutsi-Rebellen, die 1994 das für den Völkermord verantwortliche Regime stürzten – ist angeklagt worden; das Tribunal hat aber seine Akten Ende 2004 geschlossen. „Siegerjustiz“ sei das, schrieb Reyntjens an UN-Chefankläger Hassan Bubacar Jallow: „Ich werde mit der Anklage nicht mehr zusammenarbeiten können, bis der erste RPF-Verdächtige angeklagt ist.“
Gegenüber der taz verweist Reyntjens auf einen nie veröffentlichten UN-Untersuchungsbericht, der der RPF Massaker mit 30.000 bis 45.000 Toten in den zwei Monaten nach ihrer Machtergreifung im Juli 1994 anlastet. Dies war eine Zeit, als Ruanda voll von Leichen lag und die RPF-Rebellen gerade erst das Land von den Völkermordmilizen erobert hatten. Immer wieder, so Reyntjens, habe die RPF bei ihrem Vormarsch Dorfversammlungen einberufen und dann mit Maschinengewehren draufgehalten. Es habe sogar einen „Verbrennungsofen“ für Leichen gegeben. Eine „geheime“ UN-Sonderermittlertruppe habe die Täter benannt und „dutzende von Akten“ angelegt.
Das Tribunal reagierte auf Reyntjens’ Brief postwendend. Die UN-Anklage „kann nicht zulassen, dass sein Büro und vor allem die vertrauliche Arbeit der Anklageerhebung unter Druck gesetzt wird“, schrieb Jallows Assistent Alex Obote-Odoraf. Gegenüber der taz stellt das Tribunal klar, dass der Abschluss seiner Ermittlungsarbeit Ende 2004 nicht bedeute, dass es keine neuen Anklagen mehr geben kann. „Viele“ Ermittlungsverfahren seien letztes Jahr noch geführt worden, und „manche werden sicherlich in neue Anklagen in diesem Jahr münden“.
Die Beziehungen zu Ruandas RPF-Regierung haben die Arbeit des Tribunals schon mehrfach belastet. Sein Mandat erstreckt sich bis auf Ende 1994, also auch auf die Zeit unmittelbar nach dem Sieg der RPF. UN-Chefankläger Jallows Vorgängerin Carla del Ponte musste aber 2003 ihren Hut nehmen, nachdem sie Anklagen gegen RPF-Vertreter angedroht hatte und von Ruanda dafür kritisiert worden war.
Dass Reyntjens dieses Thema jetzt wieder aufrollt, hat auch ihm Kritik eingebracht. Der Belgier versuche, das Tribunal zu „manipulieren“, sagte Ruandas Vizegeneralstaatsanwalt Martin Ngoga. Dabei habe Reyntjens Ruandas Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana (1973–94) unterstützt, dessen Regierung den Völkermord vorbereitet hatte.
Solche Vorwürfe sind nicht neu. In Burundi ist Reyntjens als einstiger Berater radikaler Hutu-Rebellen bekannt. Vor einem Jahr veröffentlichte eine ruandische Zeitschrift das Faksimile eines Briefes von Reyntjens an Habyarimanas Europa-Geheimdienstchef aus der Zeit vor dem Völkermord: Der „Liebe Fabien“ wird da mit der Formulierung „Jedes Geschütz ist gut“ um Material gegen den als RPF-freundlich eingeschätzten französischen Historiker Jean-Pierre Chrétien gebeten. Reyntjens selbst bestätigt den Vorwurf, dass er 1978 unter Habyarimana an der Ausarbeitung einer neuen Einparteienverfassung für Ruanda teilnahm – „eine der besten Verfassungen Afrikas damals“, findet er. Habyarimana selbst habe er allerdings zwischen 1978 und 1993 „nur zehnmal“ gesehen. Er habe nichts gegen Tutsi, sondern kritisiere die RPF-Regierung, „weil sie eine Diktatur ist“.
Zudem behauptet Reyntjens, die RPF sei für den Völkermord „mitverantwortlich“ – denn ohne ihre Existenz hätte die Hutu-Regierung die Tutsi nicht umbringen wollen. Dieses Argument wie auch das, die RPF nutze den Völkermord heute zum eigenen Vorteil aus, ignoriert, dass viele RPF-Kämpfer ihre Familien im Völkermord verloren.
Solche Argumente rücken Reyntjens auch in die Nähe radikaler Hutu-Exilkreise, die den Wissenschaftler ohnehin als Guru ansehen. Zufällig hat drei Tage vor Reyntjens eine Reihe von Hutu-Exilgruppen in Briefen an die UNO gefordert, den „Völkermord an den Hutu“ durch die RPF vor Gericht zu bringen. Diese Formulierung benutzt immerhin nicht einmal Reyntjens.
FRANÇOIS MISSER
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