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Die lange Radtour nach Jerusalem

Die schleichende Gewalt des Nahost-Konflikts herrscht überall auf dem 180 Kilometer langen Weg von Tabgha nach Jerusalem. Radfahrer wirken hier eher skurril. Doch unser Radfahrer ließ sich von Checkpoints und Soldaten nicht entmutigen. Falafel und Begegnungen genoss er voller Enthusiasmus

Von MARCEL CORNEILLE

Das Rad, ein Tandem auf dem ich allein unterwegs bin, fährt richtig gut. Ich fahre von Tabgha im Norden Israels nach Jerusalem. Schon dreizehn Jahren vorher war ich dieselbe Strecke – 180 Kilometer – mit einem Kollegen gefahren. Damals leistete ich Zivildienst in Tabgha, dem biblischen Ort der Brotvermehrung. Jetzt zu Besuch in der Stadt erfahre ich, dass das Rad eines Freundes nach Jerusalem gebracht werden muss. Ich fasse den Entschluss, es selbst zu fahren.

Ich fahre am ersten Tag so lange, bis die Sonne untergeht. Das nächste Dorf auf dem Weg ist Sandala, ein arabisches Dorf kurz vor dem Westjordanland. Ich suche ein Hotel für die Nacht. „In der Gegend werden sie keins finden“, behauptet ein Mann, der gemeinsam mit Familie vor seinem Haus sitzt. Den Vorschlag, bei ihnen im Garten zu übernachten, nehme ich mit Freude an. Ich unterhalte mich mit dem ältesten Sohn bis spät in der Nacht. In Israel sieht er keine Zukunft vor sich. Seit Jahren war kein Familienmitglied mehr im Westjordanland. Er möchte nach seinem Studium in den Vereinigten Staaten leben.

Fünfzehn Minuten entfernt von dem gastfreundlichen Haus ist der Checkpoint – die überwachte Grenze zur Westbank. Hier fängt es für mich an, ernst zu werden. Ich erinnere mich an die vielmals gehörten Warnungen. „Palästinenser, Soldaten, radikale israelische Siedler, alle sind eine Gefahr für dich.“ Am Checkpoint bin ich der Einzige, der Richtung Dschenin will. Ein Soldat winkt mich heran. Er lacht, als ich erzähle, was ich vorhabe. Er wünscht mir trotzdem eine gute Fahrt und einige Minuten später bin ich durch. Eine lange Schlange erstreckt sich auf dieser Seite des Checkpoints. Da warten mindestens 150 Palästinenser – vermutlich gehen sie einfach zur Arbeit, nach Israel. Weniger als zwei Stunden werden sie nicht warten.

Die Straße wird zur Sandpiste. Nach zwei Kilometern kommt der nächste Checkpoint – Zäune, Wachtürme, drei Panzer. Nichts bewegt sich. Ein Soldat kommt aus einem Unterstand und räumt den Stacheldraht weg. Niemand wird kontrolliert.

Die Piste wird zur prächtigen Straße. Palmen stehen auf der Mittelinsel und villenähnliche Häuser am Straßenrand. Wer kann sich hier solche Häuser leisten? Nach einiger Zeit wandelt sich die Bebauung in kleinere Häuser mit Handwerksbetrieben im Erdgeschoss, die alle geschlossen sind. Die Pracht ist verschwunden, es wird trostlos. Kein Leben, keine Arbeit. Mitten in Dschenin hingegen sind die Straßen schön belebt. Überall winken und grüßen die Menschen den komischen Ausländer auf seinem Fahrrad. Ich fühle mich wie der Prinz im Kölner Karneval. Ich kaufe mir eine Falafel in einem Laden für zwei Schekel (ca. 40 Cent). In Tiberias habe ich dafür sechsmal so viel bezahlt.

Ich fahre weiter. Kleine Straßen, Dörfer, Olivenhaine, Felder, dann wieder eine Hauptstraße. Oberflächlich scheint alles ganz friedlich, aber im Westjordanland sind immer ein paar Spuren des Konflikts zu sehen. Wie zum Beispiel das Riffelmuster der Straße. Alle haben ein gleichmäßiges Riffelmuster. Am Checkpoint von Nablus verstehe ich, warum: Sie sind von den Ketten der Panzer hineingegraben worden. Einer fährt gerade an mir vorbei und macht neue Muster. Die meisten anderen Fahrzeuge sind Sammeltaxis, und immer mehr Krankenwagen. „Du wirst nicht nach Nablus reinkommen. Führer der Al-Aksa-Brigaden sind erschossen worden“, sagte eine Freundin aus Tel Aviv. Der Soldat am Checkpoint meint nur: „No Permission? No Entrance!“ Ich soll die Umgehungsstraße benutzen. Es ist Mittag geworden, 30 Grad im nicht vorhandenen Schatten. Mein Rucksack fällt dauernd vom Rad, die Berge zeigen mir meine Grenzen, und das bisher Gesehene schlägt mir aufs Gemüt. Ich beschließe, am nächsten Checkpoint hinter Nablus ins Taxi zu steigen.

Da spielt sich wieder die gleiche Szene ab: Zäune im Format von DDR-Grenzanlagen und auf der Nablus zugewandten Seite Menschenmassen, die von einem einzigen Soldaten kontrolliert werden und entsprechend langsam auf die „israelische“ Seite kommen. Jetzt fange ich an zu verstehen, warum Leute von den Vereinten Nationen vor Mangelernährung in den besetzten Gebieten warnen. Unter solchen Bedingungen ist keine lebensfähige Wirtschaft und Nahrungsmittelversorgung mehr möglich. In Kalandia, zehn Kilometer von Jerusalem entfernt, endet meine Taxifahrt. Als ich die Mauer sehe, denke ich sofort an die Berliner Mauer. Mitten auf der Fahrbahn entsteht sie mitunter. Einige Bauarbeiter arbeiten unter dem Schutz bewaffneter Soldaten. Gebaut wird mit palästinensischem Beton und Stahl – billiger als israelisches Material.

Hinter dem Checkpoint auf der israelischen Seite bemerke ich zwei Frauen. Wie ich erfahre, gehören sie der israelischen Frauenorganisation Machsom-Watch an. Die Mitglieder stehen an den Checkpoints und dokumentieren Übergriffe der Soldaten auf palästinensische „Grenzgänger“. „Machsom“ ist das hebräische Wort für Checkpoint. Auf meiner Fahrt habe ich erlebt, wie viele Menschen den Frieden mit der jeweils anderen Seite wagen möchten. Ich bin froh, diese Tour wieder gemacht zu haben.

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