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Irakische Paradoxien

Die Bevölkerung im Irak wird sich die Demokratie selbst erkämpfen müssen. Die Wahlen am Sonntag könnten dafür den Startschuss darstellen – nicht mehr und nicht weniger

Nur eine Koalition der verschiedenen Kräfte im Irak kann die Demokratie sichern

Wie viele Opfer hat der Irakkrieg bislang gefordert? Niemand weiß es genau, aber sicher ist, dass viele tausend Menschen gestorben sind, überwiegend Iraker, aber auch 1.300 Amerikaner. Am Tag der ersten Wahlen, die im Irak überhaupt stattfinden, stellt sich unwillkürlich die Frage: War es das wert? Rechtfertigt die Einführung der Techniken der Demokratie, also die Abhaltung von Wahlen, in einem ansonsten von einem schleichenden Bürgerkrieg, sozialer Misere, politischer Desorientierung und kultureller Zerstörung geprägten Land diesen Blutzoll?

Diese Frage ist mit Nein zu beantworten – und doch bleibt zu hoffen, dass die heutigen Wahlen eine positive Wirkung zeitigen. Natürlich ist all das eingetreten, was man bereits während des Krieges 2003 hat voraussehen können. Die US-Besatzungstruppen haben Wahlen im Irak, ähnlich wie in Afghanistan, so lange hinausgezögert, bis sie im Land Fakten schaffen konnten, die ihren geostrategischen Interessen dienlich sind. Vor allem die Kontrolle des Erdöls musste gesichert werden, um nicht zuletzt China als ressourcenschwache Supermacht langfristig in Schach zu halten. Nun wird mit Premierminister Alawi eine ausgesuchte amerikafreundliche Regierung zur Wahl gestellt, die die einzig realistische Siegchance hat. Alle anderen Parteien haben sich im Laufe der gewalttätigen Auseinandersetzungen entweder von den Wahlen zurückgezogen oder sie sind, wie die Ajatollah Sistani nahe stehenden Gruppen, wahrscheinlich nicht mehrheitsfähig.

Es ist ganz falsch, zu glauben, das Chaos im Irak störe die Durchsetzung amerikanischer Wirtschaftsinteressen. Im Gegenteil, im Schatten der Ereignisse wurden Auslandsinvestitionen liberalisiert wie nirgends sonst auf der Welt, und das „Wiederaufbaugeschäft“ ist einträglich. Die Wahlen legitimieren also eine Regierung, die, ganz wie Präsident Karsai in Afghanistan, als Marionettenregierung einer Besatzungsmacht dient, die zudem mit ihren 3.000 Mitarbeitern in der amerikanischen Botschaft faktisch eine Nebenregierung installiert hat.

Für das, was nach den Wahlen im Irak passieren könnte, gibt es verschiedene historische Vorbilder. Im Iran haben die USA mit dem Schah Mohammed Resa 1953 ebenfalls eine US-freundliche Regierung installiert, die ihnen 1979 in der Islamischen Revolution um die Ohren geflogen ist. Das amerikanische Nation-Building war in Wirklichkeit ein Experiment in struktureller Instabilität, das den Iranern das undemokratischste Regime überhaupt beschert hat und dem Rest des Nahen Ostens den islamischen Fundamentalismus.

Aufgrund dieser Erfahrung zu behaupten, eine Demokratisierung von außen könne grundsätzlich nicht gelingen, ist dennoch vorschnell, wie die andere historische Erfahrung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt. Auch die lange Periode des US-amerikanischen Neokolonialismus in Lateinamerika – lange von der Linken verurteilt – hat immerhin eine institutionelle Modernisierung gefördert, die es den meisten Ländern dort seit den 1980er-Jahren ermöglichte, den Sprung in die Demokratie zu schaffen (auch Allendes Tote werden dadurch allerdings nicht wieder lebendig).

Doch die Vorzeichen im Irak sind anders. Während die USA in Lateinamerika überhaupt keine aktive Demokratisierung betrieben, scheinen auf den ersten Blick Wahlen im Irak eine Analogie zum Deutschland der Nachkriegszeit nahe zu legen – aber das ist falsch. Deutschland musste aus Sicht der USA als Wirtschaftspartner, Motor Europas und Absatzmarkt wieder aufgebaut werden.

Im Irak hat die Sicherung des Erdöls den Vorrang. Für diese Absicht aber ist eine intakte Demokratie ein Risiko. Die Beteiligung amerikanischer Firmen an der irakischen Erdölförderung, die Kontrolle des Opec-Preiskartells und der neu entbrannte Ressourcenwettlauf mit China dulden keine Unwägbarkeiten, wie sie in demokratischen Entscheidungsprozessen üblich sind. Dies ist der Grund dafür, dass auch die Regierung Bush in den meisten Teilen des Nahen Ostens eng mit autoritären Regimen zusammenarbeitet. In den USA wird die Demokratisierung des Irak derzeit, außer in offiziellen Reden des Präsidenten, in keiner Weise thematisiert, sondern es geht bei der Irakpolitik vor allem um die nationalen Interessen der USA. Und der Schulterschluss mit traditionellen Kräften im Land wie den Scheichs und schiitischen Geistlichen ist nicht gerade eine Modernisierung nach lateinamerikanischem Vorbild.

Da die aktive militärische Besetzung auf die Dauer für die USA zu kostspielig ist, müssen amerikanische Interessen durch eine den USA freundlich gesinnte irakische Regierung gesichert werden. Also Wahlen im Irak als Mechanismus einer Pseudolegitimierung amerikanischer Supermachtinteressen?

Das Chaos im Irak stört die Durchsetzung amerikanischer Wirtschaftsinteressen keineswegs

Amerika bleibt den von Bush angekündigten Beweis eines Wandels vom realpolitischen Saulus zum demokratiefreundlichen Paulus weiterhin schuldig. Irak und Afghanistan sind auch nach den heutigen Wahlen „gelenkte Demokratien“. Sie kreisen als Satellitenstaaten um die Umlaufbahn der USA, die die Außen- wie auch weitere Teile der Innenpolitik bestimmen. Wozu sonst hätte die US-Regierung nach dem Ende des Krieges alles tun sollen, wie sie es getan hat, die Vereinten Nationen mit ihrer weitaus größeren Erfahrung im Wideraufbau von Kriegsstaaten aus der politischen Verantwortung im Irak herauszuhalten?

Schon richtet sich der neue amerikanische Kolonialismus gegen den Iran. Eine bloße Verlagerung der amerikanischen Besatzungstruppen vom Irak in den Iran würde den Irak erneut destabilisieren. Die Interessen der Schiiten des Irak, die heute relativ ruhig sind, sind nicht identisch mit denen der Schiiten im Iran. Schließlich haben sie seit 1980 acht Jahre lang gegeneinander gekämpft. Aber ein amerikanischer Angriff auf den Iran würde die ebenfalls vorhandene islamische Solidarität herausfordern und könnte die labile Überlegenheit des säkularen Schiiten Alawi gefährden.

Die Iraker werden sich die Demokratie also selbst erkämpfen müssen, geschenkt wird sie ihnen von den Amerikanern nicht. Nur eine heute nicht erkennbare, aber immerhin mögliche Koalition der verschiedenen Kräfte im Irak kann die Demokratie sichern und eine von weiten Teilen der Bevölkerung nicht gewünschte Ausweitung des Krieges im Irak verhindern. Selbst eine vorsortierte Regierung Alawi könnte in der Lage sein, das Land zu stabilisieren, indem sie diese strategischen Pläne Washingtons durchkreuzt. Ob dies gelingt, wird ganz wesentlich von ihrer Fähigkeit abhängen, sich von den Besatzern zu emanzipieren und vor allem die Sunniten des Landes – also nicht zuletzt die alte Elite unter Saddam Hussein – sinnvoll zu integrieren. Diese Paradoxie zu überwinden – Amerika treu sein zu müssen und zugleich genau das im Interesse des Irak nicht sein zu dürfen – ist eine Zerreißprobe für die Regierung. Für die Demokratisierung und Befriedung des Irak sind die Wahlen der Startschuss, nicht mehr und nicht weniger. KAI HAFEZ

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