: Vielfachtöter aus Mitleid
In einer Sonthofener Klinik hat ein Krankenpfleger (26) mindestens 29 seiner Patienten getötet – Motiv unklar
Die Taten eines 26-jährigen Krankenpflegers in Sonthofen im Allgäu sind offenbar weit entsetzlicher, als bisher angenommen worden war. Polizei und Staatsanwaltschaft in Kempten teilten gestern mit, dass der junge Mann mindestens 29 Menschen getötet habe – mit einem Mix aus den Präparaten Midazolam, Etomidat und Lysthenon.
Bei insgesamt 23 Leichen habe das Institut für Rechtsmedizin in München Rückstände von Arzneimitteln gefunden, die nicht ärztlich verordnet waren und in ihrer Kombination lebensbeendend wirkten.
„Bisher hatten wir nur ein Geständnis des Beschuldigten in 16 Fällen. Jetzt haben wir den wissenschaftlichen Beweis, dass bestimmte tödliche Medikamente angewendet wurden“, sagt Herbert Pollert, Oberstaatsanwalt. Als der Chef der Kemptener Staatsanwaltschaft die Pressekonferenz hinter sich hat, wischt er sich mit der Hand über die Stirn, nickt dem neben ihm sitzenden Kripochef Albert Müller zu und sagt dann, dass dieser Fall auch ihm als erfahrenen Staatsanwalt erheblich zu schaffen mache. Müller ergänzt, dass es noch nie im Nachkriegsdeutschland eine solche Tötungsserie gegeben habe.
Von den Ermittlern – die Sonderkommission „Klinik“ war zeitweise mit 25 Beamten besetzt – glaubt schon lange keiner mehr an das angebliche Motiv Mitleid. Aufgrund der Indizien werden von den insgesamt 29 Taten nur sechs als Mord gewertet. Sie hätten gezeigt, dass es sich bei weitem nicht nur um sterbenskranke Patientinnen und Patienten gehandelt habe, die der Pfleger auf dem Gewissen hat. Pollert schildert den Fall einer 73-jährigen Frau, die bereits auf dem Wege der Besserung war und sich mit ihren Angehörigen schon Gedanken gemacht habe, was sie nach der Entlassung aus der Klinik alles unternehmen werde. Ähnlich sei es bei einer 70-Jährigen gewesen.
Die zahlreichen Exhumierungen, sagt Kripomann Müller, hätten manche Angehörige an die Grenze des Erträglichen gebracht, selbst seine Beamten hätten damit erhebliche Probleme gehabt. 42 Gräber mussten geöffnet werden, auch das ein trauriger Rekord in Deutschland: „Wenn es um den Ehemann oder die Ehefrau ging, konnten gerade ältere Personen kaum nachvollziehen, dass die Exhumierungen unbedingt nötig sind.“
Aufgeflogen ist der junge Mann erst, als einem Arzt am Sonthofener Krankenhaus auffiel, dass Medikamente in größerer Menge verschwunden waren.
KLAUS WITTMANN
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