: Mehr als Gedächtnisroutine
ABGRUND UND HOFFNUNG Zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen zeigt das Deutsche Historische Museum eine Ausstellung zum Verhältnis „Deutsche und Polen“
VON CHRISTIAN SEMLER
Allzu oft wird hierzulande vergessen, dass der nazistische Massenmord nach dem Überfall auf Polen nicht nur die jüdisch-polnische Bevölkerung traf, sondern auch die polnische Mehrheitsgesellschaft. Schon deshalb hat die Ausstellung „Deutsche und Polen – Abgründe und Hoffnungen“, die letzte Woche im Deutschen Historischen Museum (DHM) eröffnet wurde, eine aufklärerische Funktion, die weit über die Gedächtnisroutine anlässlich des 1. 9. 1939, des Beginns des Zweiten Weltkriegs, hinausreicht.
Es geht um die in der polnischen Öffentlichkeit stets virulente Besorgnis, dass die Leiden der polnischen Menschen unter der deutschen Besatzung wie auch der Widerstand gegen sie in Deutschland nicht hinreichend gewürdigt, ja sogar vergessen würden. Und es ist diese Gefühlslage, die von der nationalistischen Rechten ausgebeutet wird. Insofern hat die Ausstellung eine unmittelbare politische Wirkung auf das polnisch-deutsche Verhältnis.
„Deutsche und Polen“ ist ein Gemeinschaftswerk von Wissenschaftlern und Museumsleuten beider Länder. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Anlässlich der Ausstellungseröffnung berichtete der polnische Zeitgeschichtler Tomasz Szarota, es habe zunächst starke Bedenken gegen die Kooperation gegeben, nicht zuletzt, weil eine Anschuldigung wegen mangelnden Patriotismus seitens der reaktionären polnischen Kräfte zu befürchten gewesen war. Während der inhaltlichen Arbeit habe sich dann herausgestellt, dass es bei strittigen Fragen so gut wie keine polnisch-deutschen Frontenbildungen gegeben habe. Die streitenden Lager waren stets gemischt. Die Mitarbeit polnischer Wissenschaftler hat dann, so die Ausstellungsmacher, die Arbeit bei der Beschaffung seltener Exponate wie bei der Formulierung der Begleittexte sehr erleichtert.
Entfesselter Nationalismus
Die Ausstellung gliedert sich in den Prolog, der von den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert bis 1939 reicht, einen Hauptteil, der die Zeit der Okkupation umfasst, und einen Epilog, der bis zur Gegenwart reicht.
Im Prolog finden sich eine Reihe außerordentlicher Dokumente, wie das Testament Friedrichs II. von Preußen, der empfiehlt, Polen zu verspeisen wie eine Artischocke, also Scheibchen für Scheibchen. Die romantische Zuneigung vieler deutscher Liberaler zu den polnischen Freiheitskämpfern im Vormärz wird ebenso reich dokumentiert wie die spätere Bismarck’sche Germanisierungspolitik. Und des Eisernen Kanzlers bronzene Büste müsste nur den Kopf drehen, um Blickkontakt mit der Büste des Marschalls Piłsudski zu gewinnen, des Heros des neuen polnischen Staates nach 1918. Abscheuliche Plakate vom „Volkstumskampf“ in Oberschlesien zeigen den entfesselten Nationalismus beider Seiten.
Der Hauptteil der Ausstellung ist der mörderischen Besatzungspolitik der Deutschen gewidmet. Massenerschießungen, Repressalien und Raub werden durch Fotos dokumentiert. Aus der von der jüdischen Warschauer Widerstandsgruppe „Oneg Szabat“ versteckten Sammlung von Berichten und Briefen hat das Warschauer jüdische Museum eine Reihe von Beispielen beigesteuert. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn die in hebräischer Schrift gehaltenen jiddischen Texte wenigstens auszugsweise übersetzt worden wären. Es finden sich auch kuriose Stücke wie ein Kreuz-König aus einem Kartenspiel, der das Konterfei Hitlers trägt. An mehreren Stellen der Ausstellung werden deutsche Haupttäter abgebildet, die sich, ihre beigefügte Biografie beweist es, oft genug der gerichtlichen Verfolgung entzogen.
Gemeinsames Geschirr
Im Epilog macht die Ausstellung um das Thema „Vertreibung der Deutschen“ aus den vormaligen deutschen Ostgebieten keinen Bogen. Einige originelle Exponate sind zu sehen, ein Schlüsselbrett, wo auf Flucht und Vertreibung mitgenommene Schlüssel befestigt sind – etwa der der Uni Breslau. Oder ein schlesisches Porzellangeschirr, das je zur Hälfte von den Vertriebenen in Deutschland und von den polnischen Neuankömmlingen benutzt wurde.
Die polnisch-deutsche Wissenschaftlercrew hat zum Vertreibungskomplex eine einheitliche Begriffsnomenklatur gefunden. Jetzt heißt es gleichlautend in Deutsch und Polnisch je nach dem historischen Vorgang Vertreibung, Umsiedlung und Zwangsausweisung.
Gemessen an der Dichte von Prolog und Hauptteil wirkt die Nachkriegs-Beziehungsgeschichte Polens und der beiden deutschen Staaten etwas zu amtlich-offiziös. Gut, dass die Debatte über die Ostverträge nochmals aufgerufen wird, dass ferner die Flugblätter von DDR-Oppositionellen zugunsten der Solidarność ihren verdienten Platz finden. Die Ausstellung endet in fast idyllischem Ambiente.
■ „Deutsche und Polen – 1. 9. 39 – Abgründe und Hoffnungen“. Deutsches Historisches Museum Berlin, bis 6. September
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