: Städte pfuschen Bilanz schön
Kommunen nutzen Hartz, um angeblich arbeitsfähige Hilfsempfänger aus der Statistik zu streichen. Sozialpolitiker: Nicht jeder, der aus Kostengründen als arbeitsfähig eingestuft wurde, ist dies wirklich
VON MARTIN TEIGELER
Mit statistischen Tricks rechnen sich die Kommunen die Sozialhilfe-Bilanz schön. Weil die Städte und Gemeinden in NRW wegen der Hartz-IV-Reform zahlreiche Ex-Sozialhilfeempfänger seit 1. Januar als angeblich arbeitsfähige Erwerbslose zählen, entlasten sie ihre Haushalte und nehmen in Kauf, dass die Arbeitslosenzahlen ansteigen. Das für die Arbeitsmarktreform zuständige NRW-Wirtschaftsministerium will den Vorgang weder bestätigen noch dementieren. „Wir beobachten das, haben aber noch keine verlässlichen Zahlen“, sagt eine Ministeriumssprecherin.
Nach Zeitungsberichten macht die Bundesregierung die Sozialämter für den Anstieg der Erwerbslosenzahl verantwortlich. Die kommunalen Ämter hätten der Bundesagentur für Arbeit auch nicht erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger gemeldet, heißt es. Bereits vor Hartz IV galt aber nur als „arbeitsfähig“, wer nicht wegen „Krankheit oder Behinderung“ außerstande ist, unter den „üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Behinderte, Obdachlose oder Drogenabhängige wurden deshalb bis Ende 2004 in den meisten Städten als nicht arbeitsfähig eingestuft – und bekamen Grundsicherung oder Sozialhilfe aus den kommunalen Kassen.
Anfang 2005 kam es im Zuge der Hartz-Reform offenbar zu einem merkwürdigen Anstieg der plötzlich arbeitsfähigen Hilfsempfänger. Der Vorteil für die Städte: Wer als arbeitsfähig eingestuft wird, bekommt das neue Arbeitslosengeld II aus der Bundeskasse und kostet die Kommunen nichts mehr. „Wir tätigen keine Verschiebebahnhöfe und fälschen keine Statistiken“, dementiert Boris Zaffarana, Sprecher des NRW-Landkreistages. Ziel der Kreise und Kommunen sei es, Menschen „wieder in Lohn und Brot“ zu bringen.
Die Zahlen sind nicht transparent. Zwei Beispiele: In Gelsenkirchen kam es im Januar zu einem Anstieg der Erwerbslosenzahlen um 1.690 auf eine Quote von fast 18 Prozent. Wie hoch der Anteil bisher nicht erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger bei dieser Ziffer ist, können weder Stadt noch Arbeitsagentur beantworten. „Das kann ich nicht sagen. Das sind Bewegungszahlen“, sagt Sara Nieradka von der Arbeitsagentur. Ähnlich die Situation im Ennepe-Ruhr-Kreis. Auch die Schwelmer Arbeitslosenzähler vermeldeten für Januar 2005 einen Anstieg um 1.634. Auf Anfrage kann die Kreisbehörde nicht aufschlüsseln, wie viele arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger im Vormonat registriert waren.
„Wir brauchen verlässliche Zahlen“, fordert Horst Vöge, sozialpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. Nicht jeder, der „von den Kommunen aus Kostengründen, als arbeitsfähig eingestuft wurde“, sei dies auch wirklich, sagt der Parlamentarier. Das müsse geprüft und korrigiert werden, um eine realistische Arbeitsmarkt-Statistik zu haben.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen