: Der große Krieg in Steglitz-Zehlendorf
CDU und FDP wollen in Steglitz-Zehlendorf an das Kriegsende vom 8. Mai 1945 erinnern – vor allem an das deutsche Leid. Seit einem Monat hagelt es Kritik. Heute könnte das Bezirksparlament den Beschluss revidieren. Doch die Fronten sind verhärtet
EIN DRAMA, NACHERZÄHLT VON JAN ROSENKRANZ
Es ist der 15. April 1945. In der S-Bahn am Anhalter Bahnhof springt ein deutscher Soldat auf und brüllt durch den Waggon: „Hört endlich auf zu jammern! Wir müssen diesen Krieg gewinnen … Denn wenn die anderen siegen und die Russen, Polen, Franzosen und Tschechen nur zu einem kleinen Prozent das mit unserem Volk machen, was wir sechs Jahre lang mit ihnen gemacht haben, dann lebt in wenigen Wochen kein einziger Deutscher mehr.“
Zehn Tage später kommt die Rote Armee nach Zehlendorf und Steglitz. Am 8. Mai kapituliert Nazi-Deutschland. Das ist jetzt 60 Jahre her. Eine lange Zeit, in der manche manches vergaßen. Es war der Sprecher der russischen Botschaft, der daran erinnerte, dass die Rote Armee nicht auf eigene Initiative nach Deutschland gekommen sei.
Es ist der 19. Januar 2005. In der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Steglitz-Zehlendorf beschließt eine Mehrheit aus CDU und FDP, dass der Bezirk den 60. Jahrestag im Rahmen einer Veranstaltung würdigen solle. In der Begründung heißt es: „Der 8. Mai 1945 steht neben der Befreiung vom totalitaristischen Naziregime auch für den Schrecken und das Leid der Bevölkerung, den die Rote Armee von Ostpreußen bis nach Berlin zu verantworten hat.“ (siehe Kasten) Der politisch wie grammatikalisch abenteuerlichen Konstruktion ist anzumerken, dass sie eilig gezimmert wurde. CDU und FDP hatten diesen Änderungsantrag erst drei Stunden zuvor eingebracht.
Sieglinde Wagner ist zu diesem Zeitpunkt weit weg. Sie macht Urlaub in Afrika, wo ihre Tochter lebt. Sie hat den ursprünglichen Antrag gestellt, in dem vor allem von Befreiung und Sieg die Rede war. Die Rote Armee kam nicht vor. Im Ausschuss ist er durchgefallen. Die BVV würde ihn ein paar Tage später ohne Diskussion ablehnen, dachte sie. Wie immer, wenn die Einzelverordnete der PDS einen Antrag stellt. Es kam anders.
Aus Sicht der Konservativen war es unmöglich, dem PDS-Text zuzustimmen. Kein Wort über die deutschen Opfer. „Nicht ausgeglichen genug“, befand FDP-Fraktionschef Kay-Heinz Erhardt. Als dennoch ein liberaler Abgeordneter ankündigte, für den Wagner-Antrag zu stimmen, bemühte sich Erhardt kurz vor Ultimo um einen „fraktionsübergreifenden Konsens“.
Dann machen wir eben mit, hieß es bei der CDU – mit eigenem Text. „Der Krieg hat mehr Leid gebracht, als es im Antrag von Frau Wagner zum Ausdruck kam“, sagt CDU-Fraktionschef Norbert Kopp und lächelt feinsinnig. Und so kochten CDU und FDP gemeinsam einen „Gedenkeintopf“, wie Norbert Kampe, Leiter der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“, später kritisieren wird. Die Rote Armee ist drin, Verfolgte und Ermordete des Naziregimes, Kriegsopfer, Flüchtlinge, Vertriebene, geschändete Frauen und „Opfer des sinnlosen Bombenkrieges“. Und alle schwimmen Seit’ an Seit’ in derselben trüben Suppe.
SPD und Grüne protestieren. Von fraktionsübergreifendem Konsens ist plötzlich nicht mehr die Rede. Wozu auch, CDU und FDP haben die Mehrheit im Parlament dieses gutbürgerlichen Bezirkes. Eine Mehrheit mit Tradition. Eine Mehrheit mit der sich unliebsame Straßenumbenennungen ebenso verhindern lassen wie jüdische Mahnmale. Mehrheiten, die Recht geben. Zwar wird der Beschluss vom „politischen Gegner instrumentalisiert“ (Kopp), doch von den eigenen Parteien gibt es Rückendeckung. Da kann der Regierende Wowereit noch so oft die Rücknahme fordern. Der Grüne Ratzmann im Abgeordnetenhaus noch so oft die NPD-Nähe beklagen, die Jusos demonstrieren, die russische Botschaft intervenieren. Sogar die jüdische Gemeinde protestiert vergebens.
Die trachten nur danach, den Gegner zu beschmutzen, beklagt Torsten Hippe von der CDU. Der Vorwurf des Rechtsextremismus sei da ein probates Mittel. Hippe ist Rechtsanwalt in einer Kanzlei am Ku’damm. Er kann argumentieren: „Wollen Sie dem Vertriebenen oder der vergewaltigten Frau sagen, das musst du jetzt leider über dich ergehen lassen, weil Hitler Auschwitz hervorgebracht hat? Weil du Auschwitz hervorgebracht hast? Was kann ich für Auschwitz?“
Herr Hippe kann dafür bestimmt nichts. Aber er kann etwas dafür, dass es hoffähig wird, das eigene Leid zu betonen, statt sich zuvörderst des Holocaust zu schämen. Doch er findet an dem Beschluss rein gar nichts missverständlich. Auch den Satz mit der Roten Armee nicht. „So kann ich das sehen“, sagt er. Zumal die Aufzählung der Opfer, derer man gedenken soll, mit „Verfolgte und Opfer des Naziregimes“ beginne. Dann folgten die Kriegsopfer – „Das sind auch Russen und sonstige.“ Dann kommen die Flüchtlinge – „Die gab es auch in Ostpolen.“ Und dann werden die geschändeten Frauen erwähnt – „die es ja nicht nur in Deutschland gab, bei der Wehrmacht wird es ja auch Vergewaltigungen an Russinnen gegeben haben.“ Hippe sagt, dass er gar nichts gleichstellen wolle oder relativieren. Er kann nur Tatbestände sezieren – und tut das so lange und ausgiebig, bis er doch alle Opfer gleichstellt. Sie haben gleich gelitten, sind gleich tot. Tot ist tot. So würde Hippe das nie sagen. Schließlich sei das kaltblütige Planen dieser Verbrechen natürlich „um ein Vielfaches verwerflicher“ als die Exzesse der Rotarmisten.
Aber darüber steht nichts im Beschluss der BVV. Für Klaus Kugler, den SPD-Fraktionschef, ist genau das Teil des Problems. Er habe nichts dagegen, dass auch der deutschen Opfer gedacht werde. „Aber doch nicht in einem Guss“, sagt der pensionierte Beamte. Schon als der Antrag auf dem Tisch lag, habe er gewusst: „Das wird eine Blamage für den Bezirk und die Stadt.“ Kugler ist seit 1975 in der BVV. Noch nie habe er so viel Bürgerpost bekommen wie zurzeit. „Die Leute sind entsetzt“, sagt er. SPD und Grüne haben darum gemeinsam die Aufhebung des Beschlusses beantragt. Darüber stimmt die BVV heute Abend ab. „Wer das jetzt nicht zurücknehmen will, der handelt absichtlich“, sagt Kugler.
Absicht will die Grünen-Fraktionschefin Irmgard Franke-Dressler der FDP nicht unbedingt unterstellen. Allenfalls eine Mischung aus „Instinktlosigkeit und Dummheit“, die von Teilen der CDU wohlwollend aufgenommen worden sei. Sie wolle heute vor allem vom CDU-Bürgermeister Herbert Weber erfahren, wie er sich dieses Rundumgedenken praktisch vorstelle. „In dieser Frage ist ja der Bürgermeister seit Tagen nicht zu erreichen“, wie nicht nur Kugler feststellen musste.
Es ist der 16. Februar 2005. Merkwürdigerweise will niemand mehr diesen Beschluss gewollt haben. Alle Seiten beteuern, dass er völlig unnötig sei, weil Bund und Land ohnehin Gedenkfeiern abhalten. Der erstaunlichster Schlenker ist aber der Umstand, dass der größte Wortführer des Entscheides, Torsten Hippe, gar nicht dafür votierte. Hippe, ganz Jurist, hat die Zuständigkeit des Bezirkes einfach nicht erkennen können.
Längst geben selbst bei CDU und FDP einige zu, dass die Formulierung in Teilen missverständlich sei. Doch zum Inhalt steht man nach wie vor. Trotz oder vor allem wegen des öffentlichen Drucks. Lieber Aussitzen als Einknicken.
Auch PDS-Einzelkämpferin Wagner will nichts auf sich beruhen lassen. Schließlich wurde ihr Antrag „ins komplette Gegenteil verkehrt.“ Ihr Name stehe aber noch immer ganz oben drauf. Sie ist zurück aus Afrika. Von der CDU verlangt sie, dass die den Antrag zurücknimmt und einen eigenen einbringt, wenn es denn sein müsse. Dann könne die CDU auch hinzuzufügen, „dass die Rote Armee auf ihrem Weg nach Berlin noch einen Umweg über Auschwitz gemacht hat“.
Eigentlich wollte Torsten Hippe gar nichts über Frau Wagner sagen, aber dann muss es doch raus: „Wenn ich einer Partei angehören würde, die in einem solch gnadenlosen Umfang seit dem Jahre 1945 Unrecht an Deutschen und an Ausländern zu verantworten hat, die Familien zerstört hat, die einen Unterdrückungsapparat wie die Stasi unterhalten hat, dann würde ich in einer solchen Diskussion einfach mal die Schnauze halten.“
Ein Konsens dürfte auch heute Abend nur schwer zu finden sein.
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