augen im magen von ILKE S. PRICK:
„Igitt, hast du das gesehen?“, stöhnt Matilde angeekelt. „Was? Die Fettschicht unter der Haut?“, frage ich zurück und lege das Küchentuch wieder auf den Kadaver. „Die auch. Aber ich meine eher die Augen auf der Oberfläche.“ Noch bevor Matilde den Deckel ein zweites Mal lüften kann, steht Gisela in der Tür und lächelt. „Habt ihr etwa gekuckt?“, säuselt sie. „Es sollte doch eine Überraschung werden!“
Überraschungen, ja, die gibt es meist, wenn Gisela kocht. Darum ist Sylvia auch heute verhindert. „Ein Abend russisches Roulett im Vierteljahr reicht. Mir sind die Pilze noch in guter Erinnerung.“ Es ist klar, was sie damit sagen will. Auch wenn Gisela das mit dem Fleisch mittlerweile hinbekommt. Die Stellen zwischen „fast roh“ und „ziemlich angebrannt“ schmecken sogar richtig gut. Und dass „al dente“ nicht mit „Auf! Zum Zahnarzt!“ übersetzt werden sollte, hat sie auch kapiert, seit wir im vergangenen Jahr beim Nachtisch nach einem Hammer verlangten, um den Karamellüberzug der Crème zu knacken. Unvergessen allerdings bleibt ihre Ente flambée: Nachdem der Pizzabote damals vier Pappkisten plus Salat abgeliefert hatte, war zumindest noch genug Hochprozentiges übrig, um über die gelöschten Gardinen lachen zu können. Und heute soll es also Hühnersuppe sein.
„Es ist doch wegen Gernot“, seufzt Gisela, während Matilde die schillernden Fettaugen in ihrem Teller beäugt wie intergalaktische Raumfähren. „Warum sind wir dann hier?“, will ich wissen, doch Gisela winkt ab. „Als Probelauf. Ich will gewappnet sein für Tag X.“ – „Tag X?“ Matildes Stimme schraubt sich gefährlich in die Höhe. „Sind wir etwa Versuchskaninchen?“ Gisela windet sich auf dem Stuhl: „Es soll halt klappen, wenn’s so weit ist.“ Verunsichert lege ich den Löffel zurück auf den Tisch. „Was soll klappen?“
„Gernot kenne ich seit November. In einer Zeitschrift habe ich nun gelesen, dass Winterlieben die einzig wahren sind. Frühling, Sommer, Herbst – alles nur hormonelle Verblödung.“ Gisela nickt zufrieden. „Aber wenn einer im Winter was mit dir anfängt, meint er es ernst. Denn der tut das trotz deiner Augenränder und deiner Depression. Darum musst du zugreifen. Im passenden Moment.“ Triumphierend hebt sie ihr Glas. „Du brauchst nur zu warten, bis er erkältet ist. Dann schleimst du dich ein mit selbst gemachter Hühnersuppe. Und, flupp, hast du ihn.“ – „Stand das so in der Zeitschrift?“, fragt Matilde und lässt demonstrativ ein schwabbeliges Stück Hühnerhaut vom Löffel flutschen. „Ja, mit Rezept und allem. Stellt euch doch vor, wie ich bei Gernot auftauche, mit warmer Suppe, und ihm einen Kuss auf seine verschnupfte Nase gebe. Romantisch, nicht wahr?“ – „Uähh, ich verstehe“, grunzt Matilde: „Einschleimen!“ Mit einem Tritt unterm Tisch reiche ich ihr das Hühnerschlüsselbein zum mystischen Knochenbrechen. Dann klingelt das Telefon.
„Er hat es versaut!“, greint Gisela, als sie auflegt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Oh, gab’s doch noch eine Sommerfrau?“ Matilde verkneift sich ein Grinsen. „Nein!“ Gisela schneuzt in die Serviette. „Er hat heute eine Grippeimpfung machen lassen.“ Ich atme auf und schiebe den Teller zur Seite. Glückwunsch, Gernot! So bleibt dir nicht nur der Schnupfen erspart.
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