: Neue männliche Abwärtsmobilität
Schriften zu Zeitschriften: Der Schweizer „Widerspruch“ und die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ über den neuen Marktliberalismus und den alten Hunger
Von dem Ziel des Welternährungsgipfels in Rom, die Zahl der 842 Millionen unterernährten Menschen bis zum Jahr 2015 zu halbieren, scheint die internationale Gemeinschaft noch weit entfernt. Täglich sterben 100.000 Menschen an den Folgen des Hungers. So greift die halbjährig erscheinende Züricher Zeitschrift Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik ein altbekanntes, aber aktuelles Thema auf, wenn sie ihre 47. Ausgabe dem Schwerpunkt „Agrobusiness – Hunger und Recht auf Nahrung“ widmet.
„Der tägliche stille Völkermord durch Hunger, der in eisiger Normalität sich abspielt, ist kein Schicksalsschlag. Er ist menschengemacht“, erregt sich Jean Ziegler, Schweizer UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, in seinem Beitrag. Hauptursachen des Hungers seien der ungleiche Zugang zum Produktionsmittel Boden und die diskriminierenden Marktmechanismen des Welthandels.
Doch was soll man tun? Ziegler zitiert, was Jean-Jacques Rousseau schon vor 250 Jahren geschrieben hat: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und es ist das Gesetz, das befreit.“ Ziegler will also nicht den gesellschaftlichen Widersprüchen beim Wachsen zusehen, sondern einer völkerrechtlichen Verankerung des Menschenrechts auf Nahrung zum Durchbruch verhelfen.
Leider aber zeige sich das UNO-System in der Hungerfrage gespalten. Gegen Kofi Annan und die Mehrheit der Menschenrechtskommission stehe das „neoliberale Lager, angeführt von den USA, den ‚kriegswilligen‘ Alliierten und ihren Söldnerorganisationen WTO, IWF und Weltbank“. Für dieses Lager gebe es kein Menschenrecht auf Nahrung, sei ein Sack Reis „eine Ware wie jede andere“.
Mit einseitigen Schuldzuweisungen hält Ziegler sich jedoch zurück, denn das World Food Program der UNO „bezieht rund 40 Prozent all seiner Hilfsgüter aus der amerikanischen Überproduktion, bezahlt von der US-Regierung“. Daher dürfen auch die Marktliberalen nicht völliger moralischer Verdammung anheimfallen. Denn in Form von Almosen können sie die schädlichen Folgen ihrer Politik zum Teil wieder kompensieren.
Auch in der deutschen Innenpolitik blickt man mit Argusaugen auf die marktliberalen Einschläge der regierenden Sozialdemokraten. Teilweise zu Unrecht. Denn in der Februarausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik erfährt man in einem Beitrag von Ute Behning, Leiterin der Wiener Forschungsgruppe „European Welfare Politics“, dass die Hartz-IV-Reformen erst im Kontext einer Konvergenzpolitik der europäischen Sozialsysteme zu verstehen sind. Mit ihren Reformen verwirkliche die Bundesregierung nämlich nichts anderes als die Ziele der im März 2000 zwischen den EU-Regierungen vereinbarten „Lissabon-Strategie“.
Bis 2010 soll der Binnenmarkt „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden, und „entsprechend sind auch die aktuellen Sozialstaatsreformen in der Bundesrepublik im Kontext des europäischen Integrationsprozesses zu betrachten“. Für diese Politik, die fälschlicherweise in üppigen Sozialsystemen die Ursachen für eine hohe Erwerbslosenquote erkenne, seien folglich „alle Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, alle involvierten nationalen Ministerialbeamten und die Europäische Kommission zur Verantwortung zu ziehen“.
Doch Arbeitsmarktkrise und Reform haben auch einen genderpolitischen Aspekt: „Während die Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit in den ‚alten‘ europäischen Sozialmodellen durch die Befriedung der männlichen Erwerbsbevölkerung qua zur Verfügung-Stellung einer Haus- und Ehefrau eingeebnet wurde, versucht das ,neue‘ europäische Sozialmodell, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit neu auszurichten.“ Das zeige etwa ein Blick auf die Tätigkeitsfelder, in denen Erwerbslose künftig außerhalb des ersten Arbeitsmarktes integriert werden sollen: „Haushaltsführung, Kindererziehung, Altenpflege, kulturelles und staatsbürgerliches Engagement … alle jene Tätigkeiten, die in den 60er-Jahren noch von Haus- und Ehefrauen kostenlos erbracht wurden.“
Sollte also der wegrationalisierte Facharbeiter demnächst ein Häubchen verpasst bekommen, um für einen Euro pro Stunde im Blutspendenbus Brote zu schmieren, spiegelt sich darin auch eine wachsende Chancengleichheit von Männern und Frauen. Fortschritt hieße das wohl erst, wenn dieser neuen männlichen Abwärtsmobilität nicht auch wieder die soziale Anerkennung versagt bliebe.
JAN-HENDRIK WULF
„Widerspruch“ 47 (2/2004), 16 €Ľ„Blätter für deutsche und internationale Politik“ (2/2005), 8,50 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen