: Sülze aus Rattenkadavern
HUNGERREVOLTE Vor 90 Jahren tobten in Hamburg Straßenkämpfe wegen minderwertiger Konserven
Die heutigen Lebensmittel-Hersteller erfinden falschen Analog-Käse und werben mit Zutaten, die sie gar nicht verwenden. Offenbar fürchten sie nicht das Schicksal, das am 23. Juni 1919 den Hamburger Fabrikanten Jacob Heil ereilte – und dessen „Heilsche Delikatess-Sülze“.
Auch bei Heil stand nicht drauf, was drin war: Aus Katzen-, Hunde- und Rattenkadavern habe der Unternehmer seine Sülze hergestellt, waren sich die Verbraucher vor 90 Jahren sicher. Die emanzipierten, jedoch sehr aufgebrachten Konsumenten marodierten in Heils Fabrik. Dann warf ihn ein Mob am Rathausmarkt in die Kleine Alster.
Verbraucher aller Stadtteile vereinigt euch! Frei nach Marx‘ Parole – im Hunger der Nachkriegszeit auf den Sülze-Skandal heruntergebrochen – mobilisierte sich eine bewaffnete Arbeiterschaft. Eine Woche lang tobte ein Aufstand, der als „Sülze-Unruhen“ in die Annalen einging. Das Rathaus wurde gestürmt. Am 1. Juli marschieren Freikorps-Truppen ein. 19 Menschen wurden bei Straßenkämpfen getötet.
Radikale Linke aus USPD und KPD hätten den blutigen Aufstand angezettelt, um den Senat zu stürzen, wurde später kolportiert. Im September 1919 erließ der Senat ein „Gesetz betreffend den Verkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln“, das die Hersteller zwang, ihre Zutaten offen zu legen und Hygiene-Inspektionen zu akzeptieren. MJK
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