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Süße Geschichte

Klein knacken, wegsperren, auftischen: Vorm Besuch des Weddinger Zuckermuseums weiß man höchstens, wie man ihn in Wasser auflöst. Danach weiß man allerhand mehr. Vorausgesetzt, man hat ein wenig Zeit investiert. Ein Selbstversuch

VON TOM WOLF

Die Belegschaft ist stolz, im ältesten Zuckermuseum der Welt zu arbeiten. Seit der Betrieb zur Filiale des Deutschen Technikmuseums wurde, hegt man jedoch diverse Befürchtungen: Ob sich das schöne alte Haus im Zuckerindustriequartier des Wedding, jener „Wiege des Rübenzuckers“, auf Dauer halten lässt? Ob man seinen Inhalt irgendwann aus zentralistischen Erwägungen nach Kreuzberg an den Landwehrkanal ins Haupthaus verschleppt? Trotz 25.000 Besuchern im Jahr, wechselnden Sonderausstellungen und süßen Begleitprogrammen für die Kinder? Angesichts der historischen Bedeutung des Gebäudes wäre Verlegung ein Jammer.

1904 als Gründung der Deutschen Zuckerindustrie (DZI) eröffnet, war es zeitweilig Teil der Technischen Universität und von 1989 bis zur „Übernahme“ eigenständiges landeseigenes Museum. Hubert Olbrich, langjähriger umtriebiger Direktor des Zuckermuseums, hat 1989 gesagt, was man im Wedding will: „Die Geschichte und die Entwicklung des Zuckers zum Grundnahrungsmittel der Menschheit, seine Gewinnung und Verwendung veranschaulichen und damit der Öffentlichkeit nahe bringen.“ Der Besucher erkennt schnell, dass er als Teil dieser Öffentlichkeit wirklich nur wusste, wie man Zucker auflöst.

Die hyperkomplizierte Zuckerchemie war dem Besucher bislang ein Buch mit sieben Siegeln. Lange verstört hatten ihn seine falschen Vorstellungen über die angebliche zentrale Rolle des Zuckers bei der Karies-Entstehung: Wo selbst kariesgeschädigte Wal-Gebisse bekannt sind und das Zuckerproblem im Weltmeer ein eher geringfügiges ist, darf er sich im Zuckermuseum belehren lassen, dass Zucker als Nährstoff die Krankheit beschleunigt, aber nicht hervorruft.

Die Soldaten Alexanders des Großen waren um 300 v. Chr. die Ersten, die in Indien Zuckerrohr zu Gesicht bekamen (Zucker leitet sich auch aus dem Sanskrit-Wort „Sarkara“ ab). Sie schrieben nach Europa äußerst kryptisch von einem „Schilf, das Honig hervorbringt ohne Bienen“. 2.200 Jahre lang war dieses geheimnisvolle „Schilf“ dann die Hauptzuckerquelle der Welt. Da der Rohzucker zur Raffinierung aus Übersee nach Europa kam, wäre „Nehmen Sie Zucker?“ noch um 1800 eine törichte Frage gewesen. Na klar, immer her damit, so lange er nur umsonst ist – ein Würzburger Steinbrucharbeiter musste damals noch fast sieben Tage für ein Kilo arbeiten. Überhaupt wird schnell klar, dass der Museumsbesuch für den braven Mitteleuropäer kein Zuckerschlecken wird. Sklaverei, Jahrhunderte währendes millionenfaches Leid, das ist die Kehrseite der süßen Geschichte.

Interessant, dass die kontinentalen Zuckerraffinerien auch eine frühe Form der europäischen Sklaverei mit sich brachten: das Gastarbeitertum. Man lese und staune und begreife dies auch als einen Diskussionsbeitrag zum Thema deutscher Nationalcharakter und deutsche Integrationswilligkeit: Deutsche waren in England zweihundert Jahre lang die Hauptgastarbeiter der Zuckerindustrie. In Bristol, Liverpool und London galten sie als „gute Kerle, arbeitsam, munter, treu und zuverlässig“. Das Beste: „Deutsche hielten der Hitze [bis zu 60° C im Werk] besser stand als Engländer.“ Das Bier war umsonst.

Interessant auch, dass sich die Gegner der Sklaverei via Zuckerboykott Aufmerksamkeit verschafften. Sie nannten sich die „Antisaccharisten“ und verzichteten demonstrativ auf die Erzeugnisse von Sklavenarbeit im Tee. Zuckerrohr, Sklaverei und die Rolle des Kolonialzuckers für Europa sind drei Schwerpunkte der Ausstellung. Kristallisationskeim des Museums ist jedoch die Rübenzuckerentdeckung und -produktion. Bernhard E. Nickl, jetziger Kustos des Zuckermuseums, nennt als wertvollstes Exponat dementsprechend auch das 14-teilige Diorama „Herstellung von Rohzucker aus Zuckerrüben“, das die Stationen der Rohzuckerfabrik Nauen um 1920 zeigt. Es wurde von der Worpsweder Künstlergruppe „Die Kugel“ erstellt.

Raumfüllend ist ebenso die Beschreibung der gewaltigen Schlacht zwischen dem Zuckerrohr und der Rübe als Hauptrohstoff der Zuckergewinnung, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Patt endete. Andreas Sigismund Marggraf, der 1747 in Berlin den Rübenzucker entdeckte, und Franz Carl Achard, der 1784 in Kaulsdorf mit Rübenzuckerproduktion begann, waren zwei ehrbare Männer, die nicht nur den Zucker zu einem erschwinglichen Pfennigprodukt machten, sondern auch halfen, das Ende der Sklaverei in Mittel- und Südamerika zu beschleunigen. Den langen Züchtungs- und Trainingsweg des erst schmächtigen Zuckerrübchens zur heutigen Zuckerkraftbombe, den zeigt und veranschaulicht bis ins kleinste Detail: das Zuckermuseum.

Und in den Vitrinen steht noch immer so viel, dass man schier verzweifeln möchte. Wie Zuckerhüte „gebacken“, d. h. geformt wurden, erfährt man, und dass der „Zuckerbäcker“ ursprünglich somit kein Patissier war, sondern ein einfacher Arbeiter in der Zuckerfabrik. Was man an Gerätschaften hatte fürs Hantieren mit den typischen Schneekoppe-Kegeln – fürs Kleinknacken, fürs Wegsperren, fürs Auftischen. Der in England so populären Kunst des Zuckerblasens, -gießens, -ziehens („shugar craft“) könnte man noch eine eigene Abteilung widmen, so viele Exponate schmachten im Magazin, sagt der Kustos.

Auch die Nebenprodukte der industriellen Zuckerherstellung pochen auf Beachtung: Sirup (Melasse), Rum, Bier, Backhefe, Spiritus und Spanplatten sind nur einige. Spanplatten? Aus der so genannten Bagasse, dem Faserabfall beim Zuckerrohrauspressen? So langsam geht es dem Besucher doch über die Hutschnur. Er dankt und grüßt und zieht es vor, lieber noch einmal wiederzukommen.

Mo.–Do. 9–16.30 Uhr, So. 11–18 Uhr, Amrumer Straße 32, Wedding. Das Buch „Zucker-Museum“, hg. von Hubert Olbrich, kostet 10 €

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