: Doch falsch gerechnet – weil falsch gedacht
Hat Hitlers Regime die Loyalität der Deutschen erkauft, indem es Juden und eroberte Länder ausplünderte? Diese These verteidigte Götz Aly gestern. Zu Unrecht, wie unser Autor Adam Tooze zeigt
VON J. ADAM TOOZE
Meine Kritik an Götz Alys Buch „Hitlers Volksstaat“ ist klar: Er hat die Kosten des Krieges für die Deutschen grob unterschätzt, weil er ausschließlich die Steuern berücksichtigt und die Leistungen, die über Anleihen finanziert wurden, nicht als Kriegskosten rechnet. Aly verkennt auch in seiner gestrigen Replik (taz, 15. 3. 05) die zentrale Bedeutung dieser Frage.
Worum es in meiner Kritik geht, ist nicht, wie er es darstellt, die buchhalterische Frage, wie Ausgaben und Einnahmen zugeordnet werden. Worum es geht, ist die klassische volkswirtschaftliche Frage: Wie werden die Kosten von Kriegen und von Sozialleistungen aufgebracht?
Um es deutlich zu sagen: Aly verrechnet sich – weil er falsch denkt. Er glaubt offensichtlich, dass staatliche Kredite nur zu einer Bürde werden, wenn man sie zurückbezahlen muss. Das geht aus seiner Replik hervor, in der es heißt, „die für den Krieg auf dem deutschen Kapitalmarkt aufgenommenen Kredite“ „verzögerten“ die „reale Belastung der deutschen Bevölkerung mit dem Ziel, diese Schulden so bald wie möglich versklavten Völkern aufzubürden“. Die Aufnahme des Kredits selbst bedeutete also, so Aly, für die Deutschen keine „reale Belastung“, erst die Tilgung, die dann aber auf die besetzten Gebiete abgewälzt werden sollte.
Dieser Gedanke aber, dass man mit Krediten die Belastungen eines Krieges „verzögern“ kann, ist Alys grundlegender Denkfehler. Lassen wir Hitlers Finanzminister Schwerin von Krosigk sprechen, der, wie Aly weiß, durchaus auf der Höhe der Diskussion war:
„Das oft ins Feld geführte Argument, dass bei Steuern die Gegenwart, bei Schulden die Zukunft die Last trage, ist falsch. Der Güterbedarf des kämpfenden Heeres kann nur aus angesammelten Vorräten (der Vergangenheit) oder neu produzierten Waren (der Gegenwart) befriedigt werden. Die Last kann nicht auf die Zukunft verlagert werden.“
Alys Annahme, die „reale Belastung“ der deutschen Bevölkerung ließe sich „verzögern“, teilte nicht einmal von Krosigk. Bei Vollbeschäftigung, die spätestens ab 1938 in Deutschland herrschte, geht jeder zusätzliche staatliche Bedarf, egal wie finanziert, direkt auf Kosten der privatwirtschaftlichen Aktivität. Das heißt in der gängigen Fachsprache der Volkswirtschaftler „Verdrängung“, oder crowding out.
Der Herbst 1938 liefert ein dramatisches Beispiel für einen solchen „Verdrängungseffekt“: Die Reichsbehörden verfügten eine Sperre für alle privatwirtschaftlichen hypothekarischen Kredite. Warum? Weil der Kapitalmarkt unbedingt für den Staat freigehalten werden sollte. Die Ersparnisse der Bevölkerung sollten dem Staat zufließen und nicht dem Wohnungsbau – obwohl man, so gängige Schätzungen, über 2 Millionen Wohnungen benötigte.
Im Krieg ging es dann nicht nur um die staatlichen Investitionen, sondern auch um den Konsum. Die Menschen mussten auf private Ausgaben verzichten. Das so „befreite“ Geld, das auf die Sparkonten floss, wurde in Staatsanleihen angelegt. Die Finanzierung durch Anleihen „verzögerte“ also nicht die „reale Belastung der deutschen Bevölkerung“. Die angehäuften Wertpapiere waren der geldmäßige Ausdruck der unmittelbar anfallenden „reellen“ Kriegskosten in Form von zurückgestautem Konsum und Investitionsbedürfnissen.
Anders gesagt: Die realen Kosten eines Krieges können nicht verzögert werden. Dafür kann man den Bürgern lediglich eine Kompensation versprechen. Eine im Krieg aufgenommene Staatsanleihe ist ein solches Versprechen. Die Bürger verzichten auf Konsum und erhalten dafür das Versprechen, dass die Anleihe mit Zinsen getilgt wird, was ihnen ermöglichen soll, zukünftige Bedürfnisse besser zu befriedigen. Wenn sogar die Ausländer die Spesen bezahlen, ist das noch besser. Aber das ist, wie gesagt, nicht mehr als ein Versprechen.
Die Reihenfolge ist folgende: Die realen Kosten des Krieges konnte Hitlers Regime nicht „verzögern“. Sie fielen im Krieg an und mussten in der Hauptsache von der deutschen Volkswirtschaft getragen werden. Kompensation sollte nachträglich folgen – nicht, wie Aly meint, im Krieg selbst. Erst danach sollten die enormen, unmittelbar von den Deutschen getragenen Kriegskosten auf die Bevölkerungen des besiegten Europas abgewälzt werden. Ein intergenerationeller Vertrag der anderen Art.
Die Verteilung der Kriegskosten über die Form ihrer Finanzierung zu analysieren, wie es Aly versucht, vernebelt also die eigentliche Frage: Was hat der Krieg die Deutschen unmittelbar an entgangenem Konsum und nützlichen Investitionen gekostet?
Der beste Maßstab für die Kriegsbelastung eines Volkes ist nicht der Staatshaushalt, sondern das Sozialprodukt. Durch diese Bezugsgröße, nicht durch eine formalistische Entstellung des Reichshaushaltes, entsteht die Differenz zwischen Aly und mir. Und nicht nur zwischen uns, sondern zwischen Aly und der gesamten wirtschaftshistorischen Forschung.
Nehmen wir das kritische Jahr 1942. Nach Mark Harrison (Resource Mobilization for World War II: The U.S.A., U.K., U.S.S.R., and Germany, 1938–1945, EHR 41/2, S. 171–92) beliefen sich die Kriegsausgaben Deutschlands auf 69 Prozent des Nettonationalprodukts (ein Verwandter des Bruttosozialprodukts). 52 Prozent wurden intern aufgebracht, 17 Prozent als Außenbeitrag – also im Verhältnis von 3:1. Daraus und nicht aus einer formalistischen Reinterpretation der Haushaltszahlen ergibt sich der 25-prozentige Auslandsbeitrag, den ich gegen Alys 70 Prozent setze.
Unbestritten ist: Die besetzten Länder mussten zur nationalsozialistischen Kriegsführung einen gewaltigen Beitrag leisten. Auch bestreitet niemand, dass das deutsche Volk mit rosigen Versprechungen auf die Nachkriegszeit bei Laune gehalten wurde. Aber warum waren dieser Außenbeitrag und diese Versprechen auf weitere Reparationen so wichtig? Nicht weil die Deutschen geschont wurden, sondern weil den Deutschen für Hitlers waghalsigen Krieg mehr abverlangt wurde als der Bevölkerung jedes anderen vergleichbaren westlichen Landes. Ein Gefälligkeitsregime war das nicht, sondern eine fordernde und zunehmend repressive Diktatur.
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