: Ziegen statt Sozialhilfe
Geschichten aus der Produktion (2): In und um Berlin geht es oft nur noch um kollektive Rückzugsgefechte und individuelle Neuanfänge. Ein Besuch beim ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden des Batteriewerks Belfa, Hanns-Peter Hartmann
VON HELMUT HÖGE
Auf der Suche nach den letzten Produktionsstätten in der Stadt, fiel mir als Erstes das Osramwerk in Spandau ein, deren Glühbirnenfertigungsstrecke vor einiger Zeit ins Ausland verlegt wurde. Ein Kreuzberger Künstler erwähnte kürzlich in einem Vortrag über die neue Arbeitswelt, dass er dort selbst einmal am Band gestanden habe – jedoch nur einen Tag lang: Den schnellen ununterbrochenen Arbeitstakt und die wenigen immergleichen Handbewegungen – das habe er nicht ausgehalten. Ein Friedrichshainer Arbeitsloser erwiderte ihm, dass er bei Osram drei Jahre lang am Band gearbeitet habe – und nicht ein einziges Mal sei der Materialnachschub ins Stocken geraten: Das habe ihn fertig gemacht!
Früher im Osten – beim Glühlampenwerk Narva – hätten sie sich nicht selten mit der Betriebsleitung gestritten, weil die ihnen die vielen Arbeitspausen aufgrund fehlenden Materials vom Lohn abziehen wollten. Schließlich sei entschieden worden, dass den Brigaden aus unverschuldeten Produktionsausfällen keine Nachteile erwachsen dürften. Man hatte also viele Pausen bei Narva und überhaupt war das Betriebsklima dort viel gemütlicher als bei Osram, schon allein, weil sie alle unkündbar gewesen seien und auf der Arbeit viel Zeit mit der Erledigung persönlicher Dinge zugebracht hätten.
Ich konnte dem Ostler insofern beipflichten, als ich ebenfalls im Westen und im Osten gearbeitet habe – wenn auch nur in der Landwirtschaft. Aber auch da war es so, dass ich bei den Einzelbauern im Westen viel mehr und länger arbeiten musste als in der LPG. Wir waren uns dann auch einig, dass die DDR nicht an zu viel Unfreiheit zugrunde gegangen ist, sondern an zu viel Freiheit – im Produktionsbereich nämlich! Die Treuhandpräsidentin Birgit Breuel hat dieses sozialistische Zugeständnis an das Proletariat auf den denunziatorischen Shareholdervalue-Begriff der „versteckten Arbeitslosigkeit“ gebracht. Aber sie hat in gewisser Weise recht: Bei Narva z. B. hatte man bereits in der Wende als Erstes alle „Leistungsschwachen und Problemfälle“, u. a. Alkoholiker und Frauen mit Kindern, entlassen: „Da schrieben wir zum ersten Mal rote Zahlen“, erzählte der Friedrichshainer. Mir fiel dazu Heiner Müllers Bemerkung über die Kellnerinnen in der DDR ein: Dass auch deren Unfreundlichkeit eine sozialistische Errungenschaft gewesen sei. Umgekehrt wäre die stets lächelnde Dienstleisterin dumpfester Ausdruck kapitalistischer Kujonierung. Dennoch, so fügte ich hinzu, habe ich lieber in der kapitalistischen als in der sozialistischen Landwirtschaft gearbeitet, weil es in den Kolchosen nur wartende Landarbeiter gab, die allem LPG-Eigentum gegenüber, auch dem Vieh, lieblos eingestellt gewesen seien.
Möglich, aber bei der Fabrikarbeit gehe es um ganz andere Dinge, meinten der Kreuzberger Künstler und der ehemalige Narva-Osram-Arbeiter. Da man als Journalist kaum so ohne weiteres in die Produktionsstätten reinkommt, wandte ich mich an den ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden des Batteriewerks Belfa, Hanns-Peter Hartmann. Er verfügt sowohl über reichlich Landarbeiter- als auch über Industriearbeiter-Erfahrungen, zudem hatte ich 1992/93 eine Betriebszeitung für seine Belegschaft in Schöneweide herausgegeben und dabei jeden der damals noch 146 Mitarbeiter kennengelernt. Sie waren damals zweimal in einen Hungerstreik getreten. Einmal wegen eines von der Treuhand verfügten Personalabbaus, ein zweites Mal wegen eines „Abwicklungsbeschlusses“ von Frau Breuel, nachdem ihre Privatisierungsmanager keinen Käufer für Belfa gefunden hatten.
Hanns-Peter Hartmann selbst hatte daraufhin zwei dynamische Münchner Manager aufgetrieben, die schließlich den Betrieb von der Treuhand übernahmen – mit 60 Mitarbeitern. Als Erstes entließen die neuen Chefs ihn, den freigestellten Betriebsratsvorsitzenden. Für diesen Spaß gab ihnen die Treuhand 150.000 DM vom Kaufpreis zurück, denn so viel sprach ein Gericht wenig später dem an sich unkündbaren Betriebsrat zu. Kurioserweise blieb er trotz Hausverbots weiterhin Vorsitzender.
Da er auch heute noch Kontakt zu vielen seiner alten Arbeitskollegen hat, erhoffte ich mir über ihn einen Zugang zur Belfa-Produktion bzw. zu dem, was davon noch übrig war: Die beiden Münchner hatten eine „Private-Label-Strategie“ verfolgt, d. h. sie ließen die Gerätebatterien z.B. mit Marilyn-Monroe-Porträts und Bayern-München-Logos bekleben. Dann wurde jedoch eine Maschine nach der anderen stillgelegt – und stattdessen Billigbatterien, u. a. aus Indien, zugekauft. Fortan wurden hier bloß noch deren Label bunt überklebt.
Von Hartmann erfuhr ich jetzt, dass diese „Nischenstrategie“ ein Flop gewesen sei, die Fabrik gebe es gar nicht mehr, zuletzt – 2001 – habe nur noch etwa ein Dutzend Leute bei Belfa gearbeitet. Er selbst saß zunächst, nach einer kurzen Arbeitslosigkeitsphase, für die PDS im Bundestag. Bei der Wahl 1998 kandidierte er jedoch nicht mehr – und wurde erneut arbeitslos. Mit seiner 150.000-DM-„Abfindung“ und einem zusätzlichen Bankkredit erwarb er eine moderne Eigentumswohnung, die aber schon seit Jahren leer steht. Er selbst wohnt noch immer bescheiden in einem alten Wohnblock, der zum Batteriewerk gehörte. Dort war es ihm nach der Wende gelungen, für den bleiverseuchten Hinterhof 100.000 DM Begrünungsgeld vom Senat loszueisen – und damit Büsche und Bäume zu pflanzen und einen Koi-Teich anzulegen.
Zwischen 1999 und 2003 bekam er aber überraschend drei mal eine ABM-Stelle als Projektleiter einer Handwerksbrigade, die Altenwohnungen renovierte. Dabei arbeitete er auch wieder mit ehemaligen Belfa-Kollegen zusammen. Nach zwei Knieoperationen wurde er als invalid und nicht mehr vermittelbar bis zur Rente eingestuft.
Währenddessen hatte seine Freundin Ewa, die ebenfalls früher bei Belfa gearbeitet hatte, mit ihm zusammen einen kleinen Hof im Lubusker Städtchen Grosno erworben. Dort halten sie inzwischen auch einige Nutztiere und müssen deswegen ständig zwischen Berlin und Polen hin und her pendeln. Der gelernte Agraringenieur Hartmann fühlte sich in den letzten Jahren immer niedergeschlagener, die frische Luft im Lubusker Land ließ ihn aber langsam wieder aufleben.
Ähnlich wie ihm ging es nebenbei bemerkt auch einem der Bischofferöder Kalikumpel, wie mir die dortige Pastorin erzählte: Nach dem langen, vergeblichen Hungerstreik, der vier Aktivisten das Leben kostete, war auch er krank geworden, dann hatte er aber sein Land zurückbekommen und sich eine Kuh angeschafft. Als sie kalbte, gewann auch er mit der Zeit seinen Lebensmut wieder.
Hartmann lud mich zu sich auf seinen Hof nach Grosno ein, dazu musste ich in Küstrin umsteigen. Als ich bei ihm ankam, mistete er gerade den Stall aus. Ich erfuhr, dass es auch schon zu Verlusten gekommen sei – u. a. hätte ein Marderhund alle Hühner gerissen. Ich berichtete ihm von einem neuen polnischen Dokumentarfilm über ein Hilfsprogramm für Arbeitslose in Ostpolen, das „Ziegen statt Sozialhilfe“ heißt.
Hartmann meinte, dass das bei vielen Leuten durchaus funktionieren könne. In seiner Nachbarschaft würden bereits etliche arbeitslose Deutsche leben, die sich so über Wasser hielten: Die Fabrikarbeit habe eben keine Zukunft mehr in Deutschland. „Und mich – als Landwirt – zieht es sowieso aus der Stadt. Die Arbeit in der Batteriefabrik sollte eigentlich nur vorübergehend sein. Ich fing 1979 in einer neuen Abteilung an einer Fließpresse an. Meine Brigade bestand zu 60 Prozent aus Vorbestraften. Zusammen mit einem Kumpel habe ich es dann geschafft, dass unsere Brigade durch Neuerungsvorschläge und Kampf schließlich die bestverdienende des ganzen Betriebes wurde. Das hat mich dort gehalten – und auch noch die Arbeit im Betriebsrat ab 1989. Aber jetzt sind das doch alles nur noch traurige Rückzugsgefechte – in den letzten Fabriken, mindestens in Berlin.“
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