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Plappern über „damals“

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Sechs Jahrzehnte Rechtfertigung und Abrechnung sind überstanden. Wir sind über’n Berg

„Es gibt ein Bild von Klee, das ‚Angelus Novus‘ heißt.“ So beginnt ein berühmter Text des Philosophen Walter Benjamin. Der Engel auf dem Bild sehe so aus, als entferne er sich von etwas, von dem sich sein Blick nicht lösen kann: „Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt.“ Sein Blick ist der Vergangenheit zugewandt: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ So müsse der Engel der Geschichte aussehen, schreibt Benjamin. Am Ende seines Textes steht der Satz: „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ wurden erstmals 1942, bald nach dem Selbstmord des Autors auf seiner Flucht vor den Nazis, von seinem Freund Theodor W. Adorno in Los Angeles veröffentlicht. Heute, mehr als sechzig Jahre danach, ist der Engel der Geschichte in eine riesige schwarze Kiste geschlüpft, in die Black Box unseres pausenlosen Erinnerungsbetriebs.

Hier hockt er nun als sein eigenes Gespenst. Der Engel der Geschichte – ein grinsender Faun. Ein feixender Gnom. Ein Grimassen schneidender Kobold und Vorturner unserer Trauerarbeit. Mal sieht er wie Guido Knopp, mal wie Bernd Eichinger aus. Hektisch fummelnd und heiser fauchend treibt er die Kolben der Maschine an. Rappelt ruhelos im Getriebe unseres multimedialen Konsensapparats. Zur Tragödie der deutschen Vergangenheit und unserer Erkrankung an ihr liefert er die Farce.

Die Bewältigung ist abgeschlossen, wir sind normal geworden. Sechs Jahrzehnte Lüge und Kampf gegen die Leugner, Schweigen und Aufschrei, Verdrängung und Anklage, bürokratische Rechtfertigung und bürokratische Abrechnung sind, irgendwie, überstanden. Wir sind über’n Berg. Unsere Fassungslosigkeit angesichts des Geschehenen hat einer munter plappernden, geschichtenseligen Aufgeschlossenheit für „Damals“ Platz gemacht.

Was Katastrophe war, ist abgehakt; was sich zu Bergen von Trümmern und Leichen bis zum Himmel türmte, erreicht uns nun, als wohl geordnete Kette vielfältigster Begebenheiten, im Vorabendprogramm, zur Primetime oder als Kinohit: Volkssturm und alliierter Bombenkrieg, Flüchtlingstreck und KZ-Befreiung, Straßenkampf in Berlin und Führers Untergang – Doku, Drama, Talk, ein bisschen Sensation, Leichenfledderei mit Schminke und Kostüm und sehr viel Soap.

Doch was da so Doku-dramatisch rappelt, raunzt und rumort, ist Kasperletheater, Schrammelmusik für Erschöpfte, während der Sturm des Fortschritts weitergeht. Seltsam, dass der ganze Gedenkzirkus gerade sechzig Jahre danach ausbricht. Vielleicht waren wir 1995, fünfzig Jahre nach Hitler, noch zu sehr mit der wieder errungenen Einheit, mit dem Ende der Spaltung, mit Stasi-Herrschaft und DDR-Abwicklung, also: mit den Folgen des Hitlerkriegs befasst. Neonazis gab es damals wie heute; es gab sie schon lange vor der Wende, und jetzt sitzen sie, wieder einmal, in einem deutschen Parlament.

Warum also gerade jetzt die Lust am erbaulichen Gruselkabinett, am unterhaltsamen Mummenschanz mit Toten und Untoten, am Einsammeln und Registrieren des Zerschlagenen? Warum gerade jetzt die Zuversicht, das Unfassliche könnte endlich fasslich werden, könnte im Dauerregen der Fernsehbilder und Zeitzeugenmonologe einer abschließenden Behandlung zuzuführen sein? Wahrscheinlich arbeiten wir wieder einmal an unserem Selbstbild. Und vielleicht ist die umfassend ins Werk gesetzte konsensuelle Entsorgung dessen, was wir im 20. Jahrhundert angerichtet haben, die Droge, die wir benötigen, um im Sturm des neuen Fortschritts zu überstehen.

„Es gilt jetzt, nach vorn zu blicken“: So klingelt und klappert die konstante Phrase der Entscheidungsträger aller Parteien und Verbände, aller Gremien und gesellschaftlichen Gruppen, mal als staatsmännisches Tremolo, mal als schnarrender Befehl, mal als hysterisches Dauermurmeln nervöser Wasserträger, die den Auftrag haben, wieder einmal eine Sauerei zu vertuschen. Sie alle verausgaben sich mit zusammengebissenen Zähnen an der Maschinerie des Fortschritts. Und wo oder wann immer auf dem Marsch voran Störungen unterlaufen oder gar der Zweifel, die Leere, das Bodenlose droht, dröhnt bestimmt einer: „Es gilt, nach vorn zu blicken.“ Es ist die Dauerlitanei der Machthabenden, die Liturgie der Katastrophenproduktion.

Der Krieg gegen den Terror: bisher ein Fehlschlag. Die Lage im Irak: täglich Trümmer und Leichen. Die Liberalisierung des Welthandels: Bankrott der Schwellenländer, fortschreitende Verarmung des Südens. Sei’s drum, es gilt, nach vorn zu blicken, und: weiter so! – Senkung der Unternehmensteuern, aber keine neuen Arbeitsplätze. Lohnabbau, verlängerte Arbeitszeit, Lockerung beim Kündigungsschutz, Kürzung der Sozialleistungen, doch die Zahl der Erwerbslosen steigt. Weiter so! – Etwas Neues muss her! Aber auch die Innovationen produzieren nur das Alte. Trotzdem: weiter so! – Übrigens gehen die Energiequellen der Menschheit zur Neige. Was soll’s, wir müssen nach vorn blicken: Wachstum, Wachstum und immer weiter so! Die Fantasielosigkeit ist an der Macht.

Wer Entscheidungen zu treffen hat, starrt nach vorn, das kennzeichnet ihn als Entscheidungsträger. Auf Fantasielosigkeit ist er angewiesen. Sein Blick ist starr und stur in die Zukunft gerichtet; was sich unter seinen Füßen krümmt, lenkt seine Aufmerksamkeit nicht ab. Sein Blick ist ein Scheinwerfer, der das Dunkel durchschneidet und seinen Entscheidungen den Weg bahnt. Der Engel der Geschichte hingegen blickt zurück. Er sieht die Produktion des Fortschritts als Katastrophe. Er ist das Rücklicht, das die Vermehrung des Unglücks überwacht.

Benjamins „Engel der Geschichte“ist in eine riesige schwarze Kiste geschlüpft

Benjamins „Angelus Novus“ ist ein mit der Weisheit des Talmud geschlagener Marxist aus dem europäischen Bildungsbürgertum. Er betrachtet mit entsetzt aufgerissenen Augen die Trümmerberge, die der kapitalistische Fortschritt seit der Reichsgründung bis zum Zweiten Weltkrieg aufgehäuft hat. Insoweit ist er eine historische Figur. Zurückblickend und mit aufgespannten Flügeln wird er mitgerissen vom Sturm des Fortschritts, der „vom Paradies her“ weht, von jener Gegend, die seit dem Sündenfall ein Sperrgebiet ist. Schon darum ist dieser Sturm nicht aufzuhalten; in Deutschland musste er wohl deshalb zwangsläufig zu Hitler führen.

Heute, so sagen die Entscheidungsträger, weht der Sturm von der Globalisierung her. Die Globalisierung ist das neue Paradies – unter Vernachlässigung des Sündenfalls. Den Engel, der stets nur zurückblickt, haben die Nach-vorn-Blicker erledigt. Oder er ist inzwischen flügellahm. Vielleicht hat ihn auch die Langeweile hinweggerafft.

Fotohinweis: Der Autor ist Publizist und Medienwissenschaftler in Berlin.

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