: Wege der Demokratie
Hamburg will die direkte Demokratie zurückfahren: Ein Lehrstück konservativer Ideologie? Dagegen spricht das Beispiel Bayern, wo es mehr Volksbegehren gibt, als in der restlichen Republik
Es war ein dicker Batzen Papier, den Bernhard Suttner in der vergangenen Woche zum bayerischen Innenministerium karrte: Mehr als 34.000 Unterschriften brachte der Landesvorsitzende der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) mit – um den Antrag seiner Partei auf ein Volksbegehren zu legitimieren. Denn die konservativen Umweltschützer verlangen, dass die Aufstellung von Mobilfunkmasten künftig nur noch nach einem öffentlichen Genehmigungsverfahren möglich sein soll. Bislang können die Firmen frei mit Hausbesitzern über Standorte verhandeln, ohne dass Rücksicht etwa auf Kindergärten oder Krankenhäuser in der Nähe genommen werden muss.
Das Vorgehen der ÖDP ist für bayerische Verhältnisse nicht ungewöhnlich – und keinesfalls aussichtslos. In keinem deutschen Bundesland wird die politische Willensbildung per Volks- oder Bürgerbegehren so hoch geschätzt und so häufig genutzt wie in Bayern – von Beginn an. Der Freistaat war 1946 das erste Bundesland, das Volksbegehren in die Verfassung aufnahm und das erste Landesgrundgesetz nach dem Krieg auch gleich per Volksentscheid in Kraft treten ließ, denn jede Verfassungsänderung muss in Bayern von der Bevölkerung direkt abgesegnet werden. Ein wichtiger Grund für diesen Alleingang: Der erste Ministerpräsident, Wilhelm Hoegner (SPD), hatte das damals in Deutschland nicht sonderlich populäre Plebiszit während seines Exils in der Schweiz kennen gelernt und nach Kriegsende heftig dafür geworben.
Hoegners Initiative hat das politische Denken im scheinbar stockkonservativen Bayern nachhaltig geprägt. 33 Anträge auf ein Volksbegehren wurden seit 1946 eingereicht, was bundesweit einsame Spitze ist. Allerdings schafften es nur fünf Anträge letztlich bis zum direkten Erfolg per Volksentscheid, denn die Hürden liegen hoch. Zunächst werden 25.000 Unterschriften benötigt, um das Begehren überhaupt starten zu können. Dann müssen sich innerhalb von zwei Wochen zehn Prozent der wahlberechtigten Einwohner des Landes, mithin etwa 880.000 Menschen, in Unterschriftenlisten eintragen, um das Begehren in den Landtag zu bringen. Der berät, ob ein entsprechender Volksentscheid zugelassen wird – oder die Parteien einen eigenen Gesetzantrag vorlegen.
Doch obwohl die meisten Initiativen irgendwo zwischen den hohen Hürden des Gesetzgebers scheitern, wird das Volksbegehren in Bayern als probates Mittel gesehen, um ein politisches Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Angesichts der über Jahrzehnte betonierten Mehrheitsverhältnisse im Landtag, in dem die CSU seit der letzten Wahl über rund zwei Drittel der Sitze verfügt, ist dieses Korrektiv auch bitter notwendig. Zugleich sagt die Beliebtheit der direkten Demokratie einiges darüber aus, wie differenziert die Wähler im nach außen oft wie ein schwarzer Monolith wirkenden Bayern agieren. Zwar machen über 50 Prozent der Wahlberechtigten bei Landtagswahlen gleichsam automatisch ihr Kreuz bei der CSU. Doch die Partei ist keinesfalls so fest gefügt und allmächtig, wie es scheint.
So feiern bei Kommunalwahlen vor allem freie Wählergruppen stetig wachsende Erfolge, und auch grüne Bürgermeister in konservativen Regionen sind nichts Außergewöhnliches. Im Zweifel zählt vor Ort die Persönlichkeit immer mehr als die Partei – ganz abgesehen davon, dass die CSU von Schwulengruppen in München über links-katholische Gewerkschaftler bis hin zu erzreaktionären Rechtsaußen eine nicht zu unterschätzende Bandbreite an Meinungen und Mitgliedern aushalten muss. Zudem werden Eigenschaften wie Eigensinn und Querköpfigkeit in Bayern gemeinhin als höchste Tugenden betrachtet. Der Regisseur Herbert Achternbusch, ein politisch weitsichtiger Mensch, analysierte einmal, dass, „60 Prozent der Bayern Anarchisten sind“.
So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass Volksbegehren, die von Staatsregierung und Parteileitung heftigst bekämpft wurden, mitunter zu überraschenden Erfolgen führten. Neben der von der ÖDP forcierten Abschaffung des Senats, einer bundesweit einmaligen Form der Ständevertretung, sorgte vor allem die Durchsetzung des kommunalen Bürgerentscheids 1995 für Aufsehen – da half es Edmund Stoiber auch nichts, dass er vorab schäumte, „die werden uns noch das Oktoberfest verbieten“.
Auf diesen Einfall wären die Münchner als Betroffene natürlich nie gekommen. Hingegen nutzten sie das neu gewonnene Mittel direkter Bürgerbeteiligung, um im vergangenen Herbst sensationell den Bau von Hochhäusern zu untersagen, die mehr als 100 Meter messen. Das Ergebnis des Entscheids, den der frühere Oberbürgermeister Georg Kronawitter initiiert hatte, war umso bemerkenswerter, da alle Parteien im Stadtrat für mehrere weitaus höher geplante Bauprojekte von Siemens und dem Süddeutschen Verlag votiert hatten. Der überaus beliebte amtierende Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) hatte bei einem Erfolg des Bürgerentscheids lauthals den Niedergang des Wirtschaftsstandorts München prophezeit, alle fünf Zeitungen am Ort unterstützten seinen Kurs. Den Bürgern war das schnurzegal.
AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG
Der Titel auf der parlamentarischen Tagesordnung klingt dröge: „Novellierung des Volksabstimmungsgesetzes“. Doch was morgen in der Hamburgischen Bürgerschaft droht, ist ein heftiger Schlag gegen die direkte Demokratie. Die 63 Abgeordneten der mit absoluter Mehrheit regierenden CDU wollen eine Vorlage des Senats durchwinken – und damit unter anderem die Ergebnisse einer öffentlichen Anhörung des Verfassungsausschusses ignorieren, bei der etliche bürgersubstanzielle Kritik geäußert hatten.
Worin besteht nun die Änderung? Volksentscheide dürfen nach Willen des CDU-Senats künftig nicht mehr am Tag einer Wahl stattfinden. Auch die freie Unterschriftensammlung auf der Straße wird untersagt – wer ein Volksbegehren unterstützen will, muss zu den Bezirksämtern gehen. Immerhin, gnädigerweise will die Stadt darauf im Amtlichen Anzeiger, über Zeitungsanzeigen und per Internet hinweisen. Kritik an dieser „Strangulierung“ kommt von den Oppositionsfraktionen SPD und GAL, Gewerkschaften, Initiativen und Vereinen. Selbst der Präsident der stockbürgerlichen Patriotischen Gesellschaft, Jürgen Mackensen, rührte die Trommel gegen das Vorhaben: „Ich verstehe nicht, wie eine gewählte Mehrheit mit der Mehrheit der Wähler umgeht.“ Über 45 Prozent der Wahlberechtigten hätten sich im Jahr 1998 für die Einführung des Volksentscheids ausgesprochen. Jetzt versuche die Bürgerschaftsmehrheit, gewählt von nur 31,9 Prozent der Wahlberechtigten, das Instrument praktisch abzuschaffen.
Das derzeitige Hamburger Modell sieht ein dreistufiges Verfahren vor: Am Anfang steht die Volksinitiative, die 10.000 Unterschriften benötigt. Beim sich daran anschließenden Volksbegehren müssen sich allerdings 62.500 Wahlberechtigte binnen zweier Wochen für ein Anliegen aussprechen. Erst dann kommt es zum Volksentscheid. Die Hamburger widmeten sich mit Inbrunst der direkten Demokratie: Sie sprachen sich gegen die Privatisierung von Wasserwerken und Berufsschulen aus oder für ein neues Wahlrecht. Einen erfolgreichen Volksentscheid gab es auch gegen das Vorhaben, die Mehrheit des Landesbetriebs Krankenhäuser zu verscherbeln. Ungerührt ob des Votums privatisierte der Stadtstaat dennoch – und bekam jüngst vor dem Hamburgischen Verfassungsgericht auch noch Recht. Doch die Enthusiasten der direkten Demokratie geben nicht auf: Nach erfolgreichen Volksinitiativen bereiten sie derzeit ein „Volksbegehren zur Rettung des Volksentscheids“ vor.
www.rettet-den-volksentscheid.de, www.mehr-demokratie-hamburg.de.
AUS HAMBURG MARKUS JOX
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