piwik no script img

Stolz im Straflager

Das Einstein-Forum lud zur Tagung über die „Offenen Wunden“ von Nazismus und Kommunismus – wie lassen sie sich in Beziehung setzen, ohne dass dabei historischer Relativismus herauskommt?

VON JAN-HENDRIK WULF

Ausgerechnet der Dienstälteste unter den anwesenden Historikern warf seinen Fachkollegen noch einmal den Fehdehandschuh hin: „Diese Tagung ist in gewisser Weise ein Relikt dessen, was das 20. Jahrhunderts intellektuell so gefährlich machte: das Schwarzweißdenken“, mahnte Eric Hobsbawm. Zur internationalen Konferenz „Offene Wunden. Reflexionen über Nazismus, Kommunismus und das 20. Jahrhundert“ hatten das Einstein-Forum und das New Yorker Remarque Institute insgesamt 22 Wissenschaftler nach Potsdam geladen.

Wie lassen sich Auschwitz, Gulag, Krieg, Vertreibung und Vernichtung unter den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts in ein Verhältnis setzen, ohne dass dabei nur historischer Relativismus herauskommt? Der in den Achtzigerjahren von Ernst Nolte angezettelte Historikerstreit war den Teilnehmern noch in schlechter Erinnerung. Doch worum sollte es auf dieser Konferenz schon gehen, wenn nicht um Geschichtsschreibung und ihren vielleicht manchmal bloß verdeckt gehaltenen moralischen Anspruch? „Einen moralhaltigen Begriff wie ‚Wunden‘ mag ich nicht“, kritisierte so der Potsdamer Historiker Martin Sabrow das Tagungsmotto.

Doch die Zäsur von 1989 hat nicht nur einen faktischen Schlussstrich unter die prominenten ideologischen Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts gezogen. Der Fall des Eisernen Vorhangs ermöglicht heute auch den westlichen Blick auf jene ethnischen und politischen Landschaften Osteuropas, die zuerst vom deutschen Vernichtungskrieg heimgesucht wurden und sich anschließend in der Einflusssphäre der Sowjetunion wiederfanden. Und das eröffnet neue, vielleicht auch moralische Perspektiven. „Wenn ich die entvölkerten Ortschaften Osteuropas und die Killing Fields des 20. Jahrhunderts besuche, verfalle ich in tiefe Depressionen“, bekannte der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel von der Frankfurter Viadrina-Universität, „obwohl das 20. Jahrhundert hinter uns liegt, kommen wir ihm mit unseren Blicken heute näher.“

Was man im Osten erblickt, könnte aber durchaus auch eine weitere Runde des Historikerstreits unter anderen Vorzeichen einläuten. In Ungarn sei mit dem Budapester „Haus der Terrors“ eine Geschichtsausstellung eröffnet worden, die die kommunistische Unterdrückung prominent platziere, Faschismus und Shoah aber nur als Fußnote betrachte, berichtete der ungarische Historiker István Rév. Schon zu kommunistischen Zeiten sei der Genozid an den Juden heruntergespielt worden. Heute verschwinde Auschwitz hinter dem Gulag, kritisiert Rév. Dagegen bekundete der Warschauer Historiker Dariusz Stola durchaus Verständnis für das „moralische Dilemma der Völker, die aufeinander folgend unter zwei Besatzungen gelebt“ hätten.

Moralische Dilemmata, wie sie auch die Oral History herausarbeitet, ein Forschungsansatz, den gleich mehrere Teilnehmer der Tagung verfolgten. Wiederum sehr zum Missvergnügen Hobsbawms, der nachdrücklich den heuristischen Wert des subjektiven Erinnerungsvermögen Einzelner in Zweifel zog. So berichtete die Londoner Historikerin Catherine Merridale von ihren Gesprächen mit sowjetischen Kriegsveteranen: Sogar jene Zeitzeugen, die zeitweilig in Stalins Straflagern verschwunden seien, hätten noch Stolz über ihren dabei geleisteten Beitrag zum Großen Vaterländischen Krieg bekundet. Merridale betrachtet die inzwischen meist verarmten und kranken Alten als doppelte Opfer der Geschichte. Doch „die alten Menschen sollen mit ihrem Stolz ins Grab gehen“, findet sie.

Ob das ebenso für Markus Wolf gelten darf, der als leibhaftiger Zeitzeuge zur Tagung geladen war? Auch Wolf begründete sein früheres Engagement für die Spionageabwehr der DDR mit seiner Lebensgeschichte und der daraus resultierenden antifaschistischen Grundhaltung. Auch er hat Angehörige, die von den Nazis ermordet wurden. Aber hält Wolfs persönliche Lebensbilanz dem äußeren Urteil stand? Zumindest unter den Anwesenden wollte keiner dessen Einstehen für das System so recht kritisieren. Der Jenaer Historiker Norbert Frei lieferte dafür eine nüchterne Erklärung: „Die deutsche Vergangenheit ist die Nazivergangenheit“, stellte er fest, „offene Wunden haben nichts mit dem Kommunismus zu tun.“ Die „zweite“ deutsche Vergangenheit sei im öffentlichen Bewusstsein bislang „zweitrangig“ geblieben.

Umständehalber können westliche Geschichtsperspektiven also auch auf den Osten übergreifen. So räumte Marina Loskutowa von der Europäischen Universität in St. Petersburg ein, dass russische Geschichtsschreibung derzeit überhaupt nur mit finanzieller Hilfe westlicher Einrichtungen funktioniere und die Agenda der Forschungsprojekte demzufolge „andernorts bestimmt“ werde. Eine Selbstklärung der sowjetischen Vergangenheit stehe in Russland nicht auf der Tagesordnung. Doch insgesamt zeigte sich: Alte moralische Fragen und neue Perspektiven auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts kommen längst auch aus östlicher Richtung. Und die Moral wird strittig bleiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen