: Bremerberger G‘schichten
Über den Mythos von „Bremer Stadtmusikanten“
studierter Mediävist, von Beruf privater Rundfunk-Berater, hat ein Buch über den Sinn der Stadtmusikanten-Erzählung geschrieben
taz: Herr Reichert, Sie wollen uns erzählen, die Geschichte von Stadtmusikanten käme nicht aus Bremen?
Gerrit Reichert: Wahrscheinlich war der Bremer Berg der Namensgeber für einen weltweit erzählten Stoff. Die Brüder Grimm selbst haben gesagt, dass sie die Geschichte im Paderbörnischen gehört haben, dort hat sie Graf von Haxthausen auf dem Gut Bökenhof in einem Märchenkreis erzählt. Der „Bremer Berg“ liegt direkt vor Bökendorf.
Und die Brüder Grimm haben in das Märchen „Bremen“ eingefügt?
Vermutlich. Es geht bei dem Märchen aber nicht um eine lokale Wanderung von A nach B, Tiere haben keine Landkarte im Kopf. Hinter der Tierfabel liegt ein symbolischer Stoff, der weltweit ähnlich erzählt wurde.
Seit wann?
Um 80 vor Christus ist in Rom eine Wanderung von Tieren nach Rom dokumentiert. Im 13. Jahrhundert hat es die erste schriftliche Bearbeitung dieses Märchenstoffes gegeben. Es gibt die „Brüsseler Stadtmusikanten“, die „Wandernden Tiere“, der Stoff hat viele Namen. Diese Geschichten sind Jahrhunderte lang erzählt worden von Menschen, die nicht lesen oder schreiben konnten. Der Stoff hat archaische Bedeutung: Menschen verwandeln sich in Tiere und schaffen es in der furchterregenden Nacht, ihr Überleben zu sichern. Da geht es um ekstatische Riten, im Märchen erinnert daran nur noch das Geschrei der Tiere. In den Inquisitationsakten finden sich Berichte von diesen Riten, die die Kirche durch ihre Weihnachtsgeschichte ablösen wollte.
Weihnachtsgeschichte?
Es geht um eine ekstatische Reise, deren Ziel es ist, zur Wintersonnenwende die Wiederkehr des Lebens zu sichern. Die Weihnachtsgeschichte von Maria und Jesus beschreibt den gleichen Mythos der Wiedergeburt des Lebens. Eine archaische Gesellschaft muss rituell dafür sorgen, dass nach dem Winter das Leben wiederkehrt. Der Kern der Stadtmusikanten-Geschichte ist also so alt wie der Schamanismus.
Interview: kawe
11 Uhr, Haus der Wissenschaft
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