RICHTERVOTUM FÜR MENSCHENWÜRDE – DER PFLEGE FEHLT VOR ALLEM GELD: Ideen statt Zwangsjacken
Rundum-Schutz ist nicht das Wichtigste in einem Seniorenleben. Ein Heim soll auch die Würde seiner Pfleglinge wahren, urteilte gestern der Bundesgerichtshof. Kein Pfleger muss eine Seniorin festbinden oder hinter Bettgitter sperren, nur weil die Dame sturzgefährdet ist. Das Urteil ist richtig, rückt es doch die Verhältnisse zurecht. Ein alter Mensch ist mehr als ein Sicherheitsrisiko aus gebrechlichen Knochen und verwirrtem Geist.
Das Urteil ist umso zwingender in unserem Pflegenotstandsland, in dem eine richterliche Verpflichtung zur Rundum-Bewachung vor allem eins bedeutet hätte: Noch mehr Senile werden ruhig gestellt, noch mehr Pillen eingeflößt, noch mehr Zwangsjacken umgeschnallt.
So richtig das Urteil also als Guten-Willens-Bezeugung ist – es verkennt, wie anders der Alltag diesseits der Heimpforten ist. Längst geht es hier nicht mehr um das Wahren oder Missachten der Menschenwürde. Sondern nur mehr um Abstufungen der Entwürdigung. So gilt ein Heim schon als gute Adresse, wenn den Alten das Lätzchen nach dem Essen wieder abgenommen wird. Und wenn einer Bewohnerin auch mal ein Sommerkleid angezogen wird und nicht ganzjährig eine Einheitskluft. Gitterstäbe um die Betten sind selbstverständlicher Alltag, ebenso wie ruhig stellende Psychopharmaka, die fast jeder zweite Heimbewohner serviert bekommt.
Zwar sind würdigere Alternativen bekannt, von den Krankenkassen werden sie aber nur selten finanziert: Hüftschutzhosen etwa, die jeden zweiten Knochenbruch verhindern – und ein Am-Bett-Festschnallen oft überflüssig machen. Intelligente Vorsorge ist in der Altenbetreuung noch immer viel zu wenig entwickelt, lieber bezahlen die Kassen für die Folgenkosten.
Das Richtervotum für die Menschenwürde wird diese Missstände nicht ändern. Es bremst allenfalls die schlimmsten Auswüchse. Für ein würdiges Altern aber bräuchte es mehr: Millioneninvestitionen in Personal und Technik. Und zuallererst die Einsicht, wie reformbedürftig die Pflegeindustrie ist. COSIMA SCHMITT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen