: Sex and the Ghetto
KRASSE SACHE Perspektivarm, brutal und voller Sex – so zeigt die Dokumentation „Letzter Halt Sex – Kids am Abgrund“ (23.30 Uhr, ARD) den Jugendalltag in Problemvierteln
NADINE AUS HELLERSDORF
VON ALEXANDRA GDANIETZ
Sex ist für den 16-jährigen Cheeks das Wichtigste im Leben, sechsmal die Woche macht er es, mindestens. Über sein Zuhause, Berlin-Hellersdorf, sagt er: „Hier ist die Gruft, hier sind 80 Prozent im Viertel Hartz IV, sagt doch schon alles, oder?!“
Der Filmemacher, Arzt und Psychologe Manfred Bölk hat Jugendliche aus deutschen Problemvierteln zum Thema Sex, Drogen, Gewalt und Rap interviewt. Mit seinem Film „Letzter Halt Sex – Kids am Abgrund“ zeigt Bölk erschreckend nüchtern, wie das ganz normale Leben in Berlin-Hellersdorf oder Hamburg-Jenfeld aussieht: perspektivarm, aber kinderreich, brutal und voller Sex.
Sein erstes Mal hatte Cheeks mit 14, nach kurzem Blick ins Handy versichert er, dass er inzwischen mit elf verschiedenen Mädchen im Bett war. Normal in dem Alter oder nicht? Was ist normal mit 16? Die Frage wird in dem Film leider nicht beantwortet, stattdessen läuft die Schlagzeile „Sexalarm: immer früher, immer öfter, immer extremer“ durchs Bild. Auf urteilende Akademiker verzichtet Bölk weitestgehend und lässt seine Protagonisten für sich selbst sprechen, was den Film umso lebensnäher wirken lässt.
Auch Nadine wohnt in Berlin-Hellersdorf, sie hat zwei Kinder und ist schwanger: „Mit 15 hab ich meinen ersten Sex gehabt und hab mir das dann auch gleich zum Hobby gemacht“, sagt sie, die blondierten Haare zum Zopf gebunden. Nadine gibt sich locker vor der Kamera, erzählt von ihrer Leidenschaft, ihren Körper virtuell zu verkaufen, per Webcam im Internet. Ihre vierköpfige Familie lebt von 725 Euro Hartz IV im Monat. Die Trostlosigkeit vor der Tür ignoriert Nadine: „Tür zu, und dann seh ich das nicht“, sagt sie, schließlich habe sie sich in ihren vier Wänden was aufgebaut.
„Porno-Rap“ spielt eine große Rolle. Die Rapper verkörpern das, was viele Jugendliche sein wollen. Ihre Texte handeln von der Realität, vom harten Leben, von Sex und Gewalt. Klischees bedient der Film zur Genüge. Und natürlich darf auch Kool Savas nicht fehlen. „Absolut krank“, beschreibt der 34-jährige Rapper das Verhalten der 13-, 14-, 15-Jährigen, die gleich von Anfang an mit dem ganzen „dirty Scheiß“ anfangen würden, ohne ihre Sexualität wirklich entdecken zu können. Etwas seltsam, wo doch Kool Savas einst mit dem Lied „Lutsch mein Schwanz“ selbst zu einem der Idole dieser Jugendlichen geworden war.
Irgendwie krass, denkt man dann, hört man die Geschichte der 20-jährigen Yasmina aus Köln, die ihre Unschuld im Internet an den Höchstbietenden versteigert hat. Noch krasser wird es, als die Hamburgerinnen Sandy oder Chayenne ihre Geschichten erzählen: kaputtes Elternhaus, Vergewaltigung mit sechs, Schwangerschaft, Abtreibung, volles Programm. Schonungslos zeigt der Film, was in manchen Familien Alltag zu sein scheint.
Die Sozialpädagogin Mirjam Müller erklärt, wie die Abwärtsspirale funktioniert: Zu Hause zerstritten, schlecht in der Schule, wenig Perspektiven, kaum Geld, um Dinge zu unternehmen, dreht sich bei den Kids viel um Sexualität, auch verbunden mit Alkohol und Drogen. Bernd Siggelkow, Gründer des Kinder- und Jugendwerks Arche e. V., sagt, die Kinder stünden unter Leistungsdruck, wollten im Trend sein. Manfred Bölk lässt hier zwei Praktiker zu Wort kommen, die nah am Leben der Kinder dran sind. Den größten Teil des Films erzählen die Jugendlichen aber selbst, was sie erleben, ehrlich und ohne Blatt vorm Mund. Zwischendurch werden immer wieder Rapperszenen eingespielt, ausschnittweise Internetpornografie gezeigt.
Abschließend werden die Filmprotagonisten nach ihren Zukunftswünschen gefragt. Cheeks’ Traum ist, später als Hotelkaufmann in Österreich zu arbeiten. Den eigenen Kindern was bieten können oder ein Haus mit Garten, so lautet die häufigste Antwort der Jugendlichen, ganz normal eben.
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