: Hexen, Punks, Polizisten und Jesus
Rund um den 1. Mai zeigt sich Berlin bunt und gelassen. Die Walpurgisnacht im Mauerpark bleibt absolut friedlich. Ausschreitungen nur in Friedrichshain. Am 1. Mai gelingen politische Demos und ein Stadtteilfest. Am Abend wird es hektisch
WALPURGISNACHT:
20:36, Gärtnerstraße Ecke Gabriel-Max-Straße: Auf dem Weg zur Walpurgisfeier auf dem Boxhagener Platz häufen sich vor einer Polizeikontrolle die Bierflaschen. Drei Punks kippen den Restinhalt runter. Die Polizistinnen schauen dem Saufgelage zu. War das wirklich Sinn und Zweck des Flaschenverbots?
20:45, Eberswalder Straße, Schönhauser Allee: Eine Polizeikolonne fährt mit Blaulicht Richtung Friedrichshain – es ist die dritte innerhalb von zehn Minuten. Langsam wird die massive Polizeipräsenz am Mauerpark dezenter. In umliegenden Straßen sind nur wenige Menschen unterwegs. Einige leeren noch schnell ihre Bierbüchsen, bevor sie in den mit Gittern geschützten Park gehen – dort herrscht absolutes Flaschen- und Dosenverbot. Die Polizisten wirken wie simple Aufpasser am Einlass eines Open-Air-Konzerts. Manche gähnen oder simsen.
21:07, Boxhagener Platz: Ein Polizeibeamter vom Anti-Konflikt-Team rempelt versehentlich eine 35-jährige Frau an. „Ihr nervt mich schon den ganzen Abend“, brüllt sie den Konfliktschlichter an. Der tritt zurück und lässt einen Beamten in Kampfmontur vortreten. Der schubst die Frau brutal weg.
21:17, Boxhagener Platz: Die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Cornelia Reinauer (PDS), schlendert ganz ohne Begleitung an der johlenden Menge vorbei, die alkoholisiert und ausgelassen zu dem Punkgedröhne von „Holla die Waldfee“ rockt. Das sei eben die Musik der Szene, sagt Reinauer und gesteht: „So schlecht finde ich sie auch nicht.“
21:50, Eberswalder Ecke Oderberger: Das RBB-Fernsehen ist da – mitsamt Starreporter Ulli Zelle. Der Polizeisprecher darf live die ruhige Lage kommentieren. Anschließend hält ein Polizeikollege hält den unvergesslichen Moment mit der Digitalknipse fest.
22:15, Mauerpark: Es knallt. Gewaltig. Polizisten, die den gesperrten Hang im Park vor Besuchern sichern, und einige der rund 2.000 Besucher schauen erschreckt auf. Zehn Minuten dauert das Feuerwerk, organisiert vom Verein der Freunde des Mauerparks.
22:00, Boxhagener Platz: Der Konzertwagen wird vom Platz geschoben. Wenige Minuten später brennen drei Plastikflaschen. „Jetzt geht’s los“, grölt die Masse. Ein Polizist gibt per Funk Entwarnung: „Det is bloß wieder mal so ’n kleenes Feuer. Die hüpfen da nur drüber.“ Wenig später fliegen erste Flaschen.
22:25, Mauerpark: Drei Punkrocker lassen sich amüsiert mit einem Anti-Konflikt-Polizisten fotografieren. Vorher haben sie versucht, ihm für 20 Euro seine Leuchtweste abzuhandeln. Erfolglos. „Genießt noch schön den Abend“, verabschiedet sich der Konfliktlöser. Die Punkrocker genießen den Abend wirklich – trotz der sterilen Atmosphäre im hellen Flutlicht und ohne Feuer: „Schließlich geht’s in der Walpurgisnacht um Hexen und nicht um Krawall“, sagt der Sänger. In den vergangenen Jahren hätten Chaoten das Fest „total versaut“.
22:31, Boxhagener Platz: Spontan formiert sich eine kleine Demo. Sie zählen runter und stürmen eine Polizeikette. Die weicht zurück, gibt sich dabei aber gelassen. Nun fliegen auch die ersten Steine.
23:16, Boxhagener Platz: Eine kleine Horde beginnt, auf einen der neuen Polizeibusse zu hämmern. Nun schreitet die Polizei doch ein. Der Kleinbus bleibt unbeschädigt – dank der modernen Plexiglasscheiben.
23:40, Mauerpark: Fünf 22-Jährige beraten via Handy, was der Abend noch bringen soll. „Was, du weißt nicht, was der Boxi ist?“, fragt eine entsetzt in ihr Mobiltelefon. Dann machen sie sich dorthin auf.
23:50, Amphitheater im Mauerpark: Zu schneller Trommelmusik tanzen ekstatisch etwa 30 Menschen, meist Frauen, meist um die 20. Die Stimmung ist gelöst und ruhig, richtig ruhig.
23:52, Boxhagener Platz: Immer wieder kommt es zu Scharmützeln. Die Polizei wird ungeduldiger und fordert per Lautsprecher, den Platz zu verlassen. Ab Mitternacht wird geräumt.
00:15, vor dem Mauerpark: Die Polizeisprecherin zieht zufrieden Bilanz: Nur eine Festnahme, vier Platzverweise, die ersten Beamten seien bereits abgezogen worden – für sie gehe der Dienst am Sonntag bereits um 9 Uhr weiter.
00:17, Krossener Straße: Der Boxhagener Platz ist leer. Auch Polizeisprecher Michael Bengsch zieht Bilanz. Drei leicht verletzte Beamte. „Die friedlichste Walpurgisnacht seit Jahren“, sagt er.
1. MAI:
10:05, Brandenburger Tor: Die große Gewerkschaftsdemo beginnt. Ihr Motto, „Innovation statt Billiglohn“, steht auf dem Leittransparent. Sehr antikapitalistisch ist das nicht – ein Eindruck, den diverse Splittergruppen am Ende der 10.000-Menschen-Demo zu vermitteln suchen – nach der Devise: Je lauter der Lautsprecherwagen, desto wichtiger das Grüppchen.
10:20, Reichstag: Zwei japanische Touristinnen schießen Fotos von den Gewerkschaftstransparenten. Eines ist von der IG Bau: „Europa ja! Sozialdumping nein!“ steht am Jahrestag der Osterweiterung der EU darauf.
10:45, Reinhardtstraße: Am Rande der DGB-Demo pinkelt ein BSR-Kollege ins Gebüsch. Auf seinem T-Shirt steht: „Sauberes Berlin – saubere Löhne!“
11:15, Mariannenplatz: Beim Open-Air-Gottesdienst singt eine Frau auf der Bühne „Herr erlöse mich“. Im Publikum hüpft eine Besucherin euphorisch im Takt. „Jesus, du bist der Allerbeste“ steht auf ihrem T-Shirt. Über dem Idyll kreisen Hubschrauber.
12:20, Rotes Rathaus. Während des Mai-Festes der Gewerkschaften hält Olivier Höbel, IG-Metall-Chef der Region, eine Rede und geißelt den „Shareholder-Value-Kapitalismus“. Dem „Terror der Ökonomie“ müsse begegnet werden, meint er – und erntet Beifall.
13:30, Yorckstraße 59: Mit ca. 200 Leuten setzt sich die Demo für das dortige von Räumung bedrohte Hausprojekt in Gang. Sie protestieren gegen die Verdrängung linker Projekte in Berlin, Deutschland und weltweit. Und fordern Solidarität mit den Hungerstreikenden im Abschiebeknast Köpenick. „Keine Vertreibung niemals, Yorck 59 bleibt“, tönt es aus den Lautsprechern. Die Stimmung ist gut.
14:15, Oranienplatz: Während die mehreren hundert Anwesenden darauf warten, dass die Kundgebung des Revolutionären 1.-Mai-Bündnisses endet und die Demonstration beginnt, überquert ein Rentnerpaar den Platz. „Wir sind ja ehemalige DDR-Bürger. Bei uns ging es ja früher um das gleiche Thema. Das ist heute noch so aktuell wie damals, habe ich gerade schon zu meiner Frau gesagt. Der Amerikaner mischt sich immer ein“, kommentiert der 74-Jährige die Veranstaltung. Hand in Hand schlendern sie Richtung Myfest den Leuschnerdamm entlang.
14:25, Oranienplatz: Vor Kuchen-Kaiser sitzt ein Paar in der Sonne und trinkt Milchkaffee. „Ich finde es gut, dass die Marxisten mit dem gleichen Eifer wie vor 30 Jahren das Gleiche erzählen“, erklärt der 58-jährige Sozialarbeiter. „Die Hippies haben das nicht geschafft.“ Sich selbst bezeichnet er eher als undogmatischen Linken. Fünf Minuten später verlässt die Demo den Platz. Der Sozialarbeiter bleibt sitzen.
15:00, Manteuffel- Ecke Oranienstraße: Die Straßenbaufirma Lorenz und Lorenz ist bis zur letzten Minute im Einsatz. Wo an Hauswänden Pflastersteine locker sind, kippen Vater und Sohn auf Zuruf der Polizei Kaltasphalt in die Löcher. 15 Quadratmeter haben sie in Kreuzberg so schon zugemacht. Ihnen steht der Schweiß auf der Stirn. „Spätestens um 17 Uhr ist Schluss, danach übernimmt die Polizei keine Verantwortung mehr für uns“, sagt Lorenz senior.
15:05, Waldemarstraße: Die Yorck-Demo ist auf über 1.000 Teilnehmer angewachsen. Die Musik verbreitet Partystimmung. „Passt auf, Yuppies, hier brennt die Luft!“, ruft eine raue Frauenstimme ins Mikro. „Wir wollen keinen Schickimickiquatsch im Waldekiez, wir bleiben hier“. Einer der Veranstalter strahlt. Er hatte nur 200 Teilnehmern erwartet. „Wir sind hier, weil wir eine politische Demo wollen. Und keine inhaltsleere, sinnlose Randale.“ Der Protestzug endet wenig später friedlich.
15:20, Naunynstraße: Braun gebrannt, mit grünen Baretten auf dem Kopf schlendern drei Beamte aus Baden-Württemberg durch die Straße. Das einzig Martialische an ihnen ist ihre Verkabelung. Jeder hat hinter dem linken und rechten Ohr einen Draht festgeklemmt, der in einen vor der Brust baumelnden Apparat mündet. „Einen für die Frau, einen für den Chef“, erklärt einer.
16:00, Oranienstraße: Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) schiebt sein Rad durch die Menge. Der Verlauf der Walpurgisnacht am Boxhagener Platz hat ihn optimistisch gestimmt. Der Schaden in der frisch angelegten Parkanlage halte sich in Grenzen. Seine Prognose für den Abend: „Es bleibt weitgehend friedlich, aber einen Prosecco würde ich darauf nicht wetten.“
16:10, Kottbusser Damm: Die Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration hat ihr Ziel erreicht. 100 Meter vor dem Kottbusser Tor versperren den Demonstranten rund 80 Polizisten den Weg. Während zum Abschluss die Internationale gespielt wird, heben einige die linke Faust. Die Menge applaudiert. Einzelne rufen: „Wir kommen wieder!“
16:30, Kottbusser Damm: Die Polizei zieht die Hälfte ihrer Leute ab. Die meisten Demonstranten haben sich bereits entfernt. Ein junger Mann verteilt seine letzten „Fisherman’s Friends.“ Auf dem Bauchladen steht: „Für alle, die es etwas härter mögen.“
17:50, Mariannenplatz: Kurdische Folkloremusik mischt sich mit dem Hardcore-Geschrummel der Hauptbühne. Familien auf Sonntagsausflug mischen sich unter die bunthaarigen Kiffenden. Die Kinder tragen Luftballons, die Erwachsenen Bierdosen.
18:25, Heinrichplatz: Hunderte Leute starten wie im Vorjahr eine Spontandemonstration mit roten Fahnen durch das Myfest. Die übliche Hektik beginnt.
18:30, Waldemarstraße: Die Spontandemo hastet vorbei. Parolen ahnt man mehr, als dass man sie versteht. „Hoch die internationale …“
18:59, zwischen Oranien- und Moritzplatz: „Ketten bilden“, rufen einige Demonstranen in den ersten Reihen. Doch nicht alle wollen ihren vertrauten Kiez verlassen: Auf der Höhe vom Moritzplatz ziehen einige Demonstranten lieber wieder zurück nach SO 36.
19:00, Mariannen-, Ecke Naunynstraße: „Ey, hört auf“, schreit der Rapper von der Bühne, als ein flaschenwerfender Demonstrant von Umstehenden verprügelt wird. „Lasst die Demonstranten durch und klatscht, weil sie für ihr Ding auf die Straße gehen. Das ist gut. Aber sie sollen in Zehlendorf alles kaputt machen, da wo die Reichen wohnen, nicht hier“.
19:15, Heinrichplatz: Kaum noch Kinder, viele Polizisten, das Volksfestflair lässt nach. Lädierte Punks und gestylte Schönheiten flanieren.
19:39, 200 Meter vor dem Springer-Hochaus: Es knallt. Steine und Böller fliegen Richtung Polizei, ein schwarzer Opel Corsa wird umgekippt und demoliert. Wasserwerfer fahren auf. Die Polizei greift einzelne Leute aus der Masse.
19:42, Axel-Springer-Straße: Etwa ein Dutzend Fotografen stürzt sich auf einen umgekippten Fahrradständer mit einem Werbeschild von Bild, im Hintergrund sind Wasserwerfer und das Springer-Gebäude zu sehen.
19:47, Richtung Moritzplatz wird die Demo zurückgedängt. Die Polizei agiert weiter zurückhaltend, greift nur gelegentlich gezielt zu. Am Rande der Demo unterhalten sich zwei Zwölfjährige. Der eine frage: „Hast du auch Steine geworfen?“ Antwort: „Na klar!“
19:52, Moritzplatz: Die Polizei kesselt ein. Ein Großteil der Demonstranten kann jedoch entwischen, rund 200 trifft es aber. Geschätztes Durchschnittsalter: 18.
20:04, Oranienstraße Ecke Adalbertstraße: Hier läuft das Myfest auf Hochtouren weiter, die Stimmung ist entspannt. An einem Stand werden Pflastersteine für einen Euro verkauft – aus Latex.
21:00, Mariannen-, Ecke Naunyn: Nach einem kurzen Scharmützel haben schwarz-grün Uniformierte die Kreuzung besetzt. Rundherum 30 Jugendliche, die Stimmung ist gespannt. Silke Fischer, Organisatorin des Myfestes, hat den Abbau der dortigen Bühne angewiesen. Auf den anderen Bühnen gehe das Programm aber weiter, heißt es.
21:35, Heinrichplatz: Man steht herum und ist angetrunken, nur die Polizei ist noch nüchtern. Ansonsten passiert nicht mehr viel. „Bis jetzt der friedlichste 1. Mai seit Jahren“, sagt ein Passant.
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