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„Es gibt keinen Schlussstrich“

Auszüge aus der Rede des Bundespräsidenten: „Begabung zur Freiheit“ zum 60. Jahrestag des Kriegsendes

Die Deutschen haben damals vieles miteinander beschwiegen

Die meisten Deutschen waren erleichtert darüber. Zugleich waren sie wie betäubt von der Wucht der Niederlage und fragten sich bang, welches Schicksal sie nun erwartete. … Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham zurück auf den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg und auf den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch Holocaust. Wir gedenken der sechs Millionen Juden, die mit teuflischer Energie ermordet wurden, oft nach Jahren öffentlich sichtbarer Entrechtung. … Wir fühlen Abscheu und Verachtung gegenüber denen, die durch diese Verbrechen an der Menschheit schuldig geworden sind und unser Land entehrten. Wir trauern um alle Opfer Deutschlands – um die Opfer der Gewalt, die von Deutschland ausging, und um die Opfer der Gewalt, die auf Deutschland zurückschlug. Wir trauern um alle Opfer, weil wir gerecht gegen alle Völker sein wollen, auch gegen unser eigenes. … Es gibt keinen Schlussstrich.

Diesen Dank schulden wir an erster Stelle den Völkern, die Deutschland besiegt und vom Nationalsozialismus befreit haben. Sie haben den Deutschen nach dem Krieg eine Chance gegeben. Das war vernünftig, aber das macht das Geschenk nicht kleiner. … Die Deutschen haben damals vieles miteinander beschwiegen. „Nichts sagen, nichts fragen“, war die Einstellung vieler. Darin waren sich Schuldige und Unschuldige oft unausgesprochen einig. Heute sehen vor allem Jüngere genau hin und fragen, wie sich damals die Menschen verhalten haben. Sie fragen übrigens auch, wie es um die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht. … Solche Unterdrückung erlitten nicht allein die Ostdeutschen, sondern alle Völker im sowjetischen Machtbereich.

Westdeutschland hatte es viel leichter – auch, weil es vergleichsweise weniger Reparationen leisten musste und mehr Aufbauhilfe bekam. … Das Kennzeichen dieser politischen Ordnung war – jede Menge Streit! … um die soziale Marktwirtschaft und um die Wiederbewaffnung, um den Beitritt zur Nato und um die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften, um die neue Ostpolitik und um die Nachrüstung. Im Rückblick zeigt sich: Alle diese Entscheidungen waren richtig. … Nun folgt ihm mit Benedikt XVI. ein Papst, der aus Deutschland kommt, und Menschen in aller Welt freuen sich über diese Wahl. Zeigt das nicht auch, wie unser Land heute wahrgenommen wird?

Überall in Mitteleuropa hat sich 1989 der Wille zur Freiheit durchgesetzt: friedfertig, klug und entschlossen. Die Ostdeutschen haben eines der besten Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben. … Deutschland ist heute – wohl erstmals in seiner Geschichte – rundum von Freunden und Partnern umgeben. Zwischen uns ist Krieg unmöglich geworden. … Wir werden die zwölf Jahre der Nazidiktatur und das Unglück, das Deutsche über die Welt gebracht haben, nicht vergessen, im Gegenteil. … Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität unserer Nation. Wer einen Teil davon verdrängen will, der versündigt sich an Deutschland. … Unser Land ist vielgestaltiger und weltoffener als jemals zuvor. Wir haben uns als Nation wiedergefunden. … Es gibt bei uns leider auch Unbelehrbare, die zurückwollen zu Rassismus und Rechtsextremismus. Aber sie haben keine Chance. … Unser Land hält Maß und hat Gewicht. … Wir haben heute guten Grund, stolz auf unser Land zu sein.

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